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Heimat und Gewalt

Die Jahresgabe der Bezirksheimatpflege von Oberbayern widmet sich 2020 dem Thema „Heimat und Gewalt“. Sie vereint zwei Studien, die einen „Blick auf gewaltbesetzte Pervertierungen des Heimatbegriffs“ (S. 5) gewähren und das Janusgesicht (S. 9) von Heimat offenbaren.

In sechs Fallstudien skizziert Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler Beispiele einer gewalttätigen Heimatgeschichte. Er macht dabei auf Bräuche wie das österliche Judasfeuer, auf das Aufstellen von sogenannten Schandbäumen und auf das Haberfeldtreiben aufmerksam, das sich vielfach gegen ohnehin sozial benachteiligte Menschen richtete. Darüber hinaus verweist er auf den „Heimatdichter“ Ludwig Thoma (1867–1921), der in gewaltverherrlichenden Artikeln unter anderem Juden und Homosexuelle diffamierte.

Die altbayerische Gesellschaft war von alltäglicher Gewalt geprägt, die sich beispielsweise in der unbarmherzigen Züchtigung von Kindern durch Eltern und Lehrer äußerte. Insbesondere unangepasste Künstler und Intellektuelle, wie Angehörige des „Blauen Reiters“ (ca. 1911–1914), waren Hass und Häme ausgesetzt. Auch die Gewaltexzesse an den Revolutionären und Mitläufern am Ende der Münchner Räterepublik (1919) finden Erwähnung. Und schließlich befasst sich Göttler mit der ideologischen Vereinnahmung der Stadterhebungsfeier von Dachau im Jahr 1934 – gefeiert wurde unweit des bereits etablierten Konzentrationslagers – durch die Nationalsozialisten, die Heimatfeste generell bereitwillig „förderten und für Propagandazwecke missbrauchten“ (S. 51).

Heimat, so resümiert der Herausgeber, sei „noch kein Wert an sich, es komm[e] darauf an, welche Botschaft mit diesem Wort verbunden“ werde (S. 60). Im Hinblick auf das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Deutschland, welche häufig genug den Begriff der Heimat im Munde führten, gewinne die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Heimat und Gewalt“ zunehmend an Bedeutung.

Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen nähern sich dem Thema aus Sicht der Psychotherapie und Pädagogik und entlarven gleich zu Beginn ihres Aufsatzes den Fehlschluss, in der Heimat könne man sich sicher fühlen, Gewalt würde schließlich nur von außen drohen (S. 65). Die beiden Autoren waren in ihren Tätigkeiten als Pädagogin und Psychotherapeut bereits mit vielfältigen Formen von subtiler und offener Gewalt, von Abwertungen, Ausgrenzungen und Einschüchterungen bis hin zu Misshandlungen (S. 71) konfrontiert. Besonderes Augenmerk legen sie auf die Verdrängung der Erlebnisse von in NS-Verbrechen verstrickten Vätern und Großvätern, die sich nicht selten in sexualisierter Gewalt gegen Familienangehörige Bahn brachen (S. 80ff.).

Heimat, so das Ehepaar Müller-Hohagen, sei eben nicht per se rein, schützenswert und unschuldig; vielmehr sei die heimatlich-beschauliche Idylle oft genug mit gewaltförmigen Mitteln hergestellt (S. 84f.). Das Nebeneinander von Stacheldraht und heiler Welt, von Normalität und Terror trete als conditio humana in Erscheinung (S. 86). Eine Lösung bieten die Autoren dennoch an – in der empathischen Betroffenheit angesichts der Geschichte und der daraus resultierenden verantwortungsvollen Aneignung und Weiterentwicklung von Heimat.

Beide Aufsätze eröffnen die Perspektive, dass es in der (selbst)kritischen Reflexion, selbst vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen, möglich ist, Beheimatung neu zu erfahren (S. 95). Die vorliegende Veröffentlichung bietet damit eine notwendige Erweiterung um einen bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt der Heimatgeschichtsforschung.

 Daniela Sandner

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Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

Heimat und Gewalt

litera bavarica ist eine Unternehmung der Histonauten und der Edition Luftschiffer (ein Imprint der edition tingeltangel)
in Zusammenarbeit mit Gerhard Willhalm (stadtgeschichte-muenchen.de)


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