Was es mit der viel beschworenen „Liberalitas Bavarica“ tatsächlich auf sich hat und ob es diese Lebensphilosophie, die bekanntlich heute so gerne von Politikern aller Couleur, Wirtschaftsführern, Kulturmanagern und Tourismusexperten propagiert wird, jemals wirklich gab, wissen wir nicht. Wie tiefschürfend, vielschichtig und umstritten dieses Thema ist, hat erst vor kurzem Egon Johannes Greipl, gelernter bayerischer Landeshistoriker und jahrelanger Generalkonservator am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, in einem kritischen, gerade aber auch deshalb überaus lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte aufgezeigt (Bd. 81/2018, S. 475–495). Aber wenn wir trotzdem davon ausgehen, dass in Bayern stets das Prinzip „Leben und leben lassen“ galt, dann liefert das von Richard Winkler, seit 2001 stellvertretender Leiter des Bayerischen Wirtschaftsarchivs und Autor mehrerer umfassender Monografien und zahlreicher Aufsätze zu Themen der Landes-, Wirtschafts-, Unternehmens- und Kartografiegeschichte Bayerns, verfasste Werk „Der Salvator auf dem Nockherberg“ ein wahrlich gutes Beispiel dafür. Blättert man nämlich – gleichsam als Entrée – den Band erst einmal interessiert durch, bevor man, dadurch neugierig geworden, ihn Zeile für Zeile liest, so ist man immer wieder davon fasziniert, wie die Leidenschaft für das hochprozentige Bier seit fast 400 Jahren Menschen aller Schichten zusammenbrachte und sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür sorgte, dass sich die Obrigkeit nicht getraute, ein von ihr erlassenes Brauverbot durchzusetzen, sondern nach jahrzehntellangem zähen Widerstand des Brauers und der Liebhaber des Gerstensaftes den Erlass stillschweigend wieder einzog. Oder nehmen wir als anderes Beispiel den Starkbieranstich auf dem Nockherberg der letzten rund 50 Jahre: Da wurde eine gewiss nicht im Rampenlicht stehende, robuste und zupackende Kellnerin als „Miss Salvator“ prämiert, während Kaiserin Soraya von Persien, Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher, Angela Merkel, Maria Schell, Romy Schneider, Gert Fröbe und Hans Moser ihre Maßkrüge stemmten und sich Franz-Josef Strauß Schulter an Schulter mit Hans-Jochen Vogel bestens amüsierten. Freilich: Ob die Prominenten stets so gut gelaunt waren, wie sie es vor den Kameras demonstrierten, konnte Richard Winkler natürlich nicht klären. Tatsache ist jedenfalls, dass eine ganze Reihe hochkarätiger und durchaus gesellschaftskritischer Kabarettisten als Fastenprediger auftrat und den Politikern mehr oder weniger deftig die Leviten las, was bei diesen gewiss nicht immer auf Begeisterung stieß. Doch bei allem Schenkelklopfen über die Jahrzehnte hinweg sollte man nicht vergessen, dass auch der Nockherberg dunkle Zeiten erlebte und etwa der Starkbierredner Karl Steinacker bereits 1933 in die NSDAP eingetreten war und ein Jahr später seine Eröffnungsrede des Starkbieranstiches mit den Worten schloss: „Des siecht sogar der ärgste Krittler / ’s gibt auf der Welt koan zwoatn Hitler! / Und weil wir so an Führer ham, / gibt’s nur des oane: Leut halt’s z’amm / und arbats mit ihm Hand in Hand / fürs neue deutsche Vaterland!“ Und auch wenn die Zeitebenen nicht exakt zueinander passen: Gibt es ein besseres Beispiel dafür, was die allem Bayerischen wohl sehr kritisch gegenüberstehende Frankfurter Schule rund um das weltweit renommierte Institut für Sozialforschung stets als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ propagiert?
Perspektivenwechsel – und somit ganz nüchtern zurück zu einer in Wort und Bild vorzüglichen Studie zur Münchner Stadtgeschichte besonderer Art: Reinhard Winklers Schilderung der Erfolgsgeschichte der Paulanerbrauerei von den äußerst bescheidenen Anfängen in der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur heutigen Präsenz in über 80 Märkten weltweit, des Starkbieres Salvator und des inzwischen nicht nur bayern-, sondern deutschland-, ja sogar weltweiten Fernseh-Events des Starkbieranstichs ist viel mehr als nur ein apologetisches Loblied auf die Welt des Bieres. Akribisch aus unzähligen Zeitungsartikeln, der einschlägigen Literatur, Nachweisen im Internet, den hauseigenen Quellen des bayerischen Wirtschaftsarchivs sowie den Beständen weiterer privater und staatlicher Archive erarbeitet, zeichnet Winkler fast minutiös die Geschichte der Münchner Paulanerbrauerei und ihres weltberühmten Starkbieres nach, wobei er sich trotz vieler, sehr feingliedrig angelegter, mitunter naturgemäß ziemlich trockener, aber dennoch sehr aussagekräftiger Statistiken und Tabellen nie in Details verliert, sondern stets das Große und Ganze im Auge behält: das Brauwesen einst und jetzt in all seinen Facetten, die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation in München über mehrere Jahrhunderte hinweg, die Alltagskultur der Menschen unterschiedlichster Schichten und deren Bedürfnis, ihrem täglichen Leben zu entfliehen – und nicht zuletzt auch die Entwicklung der Medien und deren rasanten Siegeszug seit den 1960er Jahren.
Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.