Rezensionen
 

Der München-Roman "Am Götterbaum"

»Mir ging es immer darum«, erklärte Hans Pleschinski einmal, »Historie wachzurufen«. Dieser Arbeitsmaxime verdanken wir unter anderem eine Übersetzung des geheimen Tagebuchs des Herzogs von Cro sowie die Herausgabe der Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel. Die Fantasie für das eigene Schaffen wurde in den letzten Jahren vor allem von Literaturnobelpreisträgern beflügelt. In »Königsallee« imaginierte der Schriftsteller ein Aufeinandertreffen von Thomas Mann und seinem »Augenstern« Klaus Heuser in der Wirtschaftswunder-BRD. In »Wiesenstein« erzählte er die letzten Lebensjahre Gerhart Hauptmanns. Pleschinskis jüngster Roman »Am Götterbaum« scheint nahtlos daran anzuschließen, steht doch mit dem gebürtigen Berliner Paul Heyse – nach dem Historiker Theodor Mommsen und dem Philosophen Rudolf Eucken – der erste deutsche mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller im Zentrum. Oder?

Was auf den ersten Blick ausgemacht scheint, bringt die Lektüre ins Wanken. »Am Götterbaum« ist weniger ein Buch über den ab 1854 bis zu seinem Tod 1914 in München residierenden Dichterfürsten Paul Heyse, den die meisten heute wohl nur mit einer lauten, dunklen und verdreckten Unterführung am Hauptbahnhof in Verbindung bringen und nicht mit 180 Novellen, mehreren dickleibigen Romanen, zahllosen Gedichten, Theaterstücken und Übersetzungen. Sondern es geht darin vor allem um die Befindlichkeit der bayerischen Landeshauptstadt von heute und reiht sich somit aufs Schönste in die Phalanx großer München-Romane von Koeppens »Tauben im Gras« über Uwe Timms »Heißer Sommer« bis zu Ernst Augustins »Schule der Nackten« ein. »Am Götterbaum« ist also hochironisch, scharfzüngig. Gleich auf der ersten Seite stimmt ein Satz auf die Tonlage ein: »Späte Tage der Menschheit.«

Pleschinskis Kniff ist ebenso einfach wie bestechend. Er nimmt den abgedroschenen Ausspruch »Der Weg ist das Ziel« ernst. Legt sie der 63-jährigen Stadträtin Antonia Silberstein in den Mund und schickt sie gemeinsam mit der Monacensia-Bibliothekarin Therese Flößer und der Schriftstellerin Ortrud Vandervelt zu Fuß von der Innenstadt zur ehemaligen Heyse-Villa, wo einst Theodor Fontane und Henrik Ibsen ein und aus gingen. Könnte man die unter Denkmalschutz stehende, vermietete Immobilie in der Maxvorstadt nicht in ein Heyse-Zentrum und somit in einen kulturellen »Leuchtturm« umwandeln, der weit über die Stadt ausstrahlt? »Am Götterbaum« setzt Kulturpolitik und Literaturbetrieb mit präzise platzierten Floretthieben zu, die bestechend komisch sind.

»Großes stand bevor, aber es begann klein und zugig«, heißt es früh. Das klingt nicht nur wie ein Menetekel, sondern ist auch eins. Gewöhnlich braucht man für den Fußweg vom Rathaus über Odeons-, Karolinen- und Königsplatz in die Luisenstraße 22 wohl etwas mehr als zwanzig Minuten. Pleschinski lässt das Damentrio, zu dem später noch der Heyse-Experte Harald Bradford samt chinesischem Ehemann stößt, auch nach 200 Seiten noch nicht wirklich ankommen. Man fühlt sich ein wenig an Kafkas Landvermesser K. erinnert, das Schloss immer in Reichweite.

Ortrud Vandervelt, der die Welt die Romane »Kartause des Hirns« und »Stuckaturen der Emotion« verdankt, ist von Anfang an verbiestert. Sie hält Heyses Werk für aus der Zeit gefallenen »Plunder«. Therese Flößer wiederum humpelt nach einem Skiunfall auf Krücken. Für den Rest an Unbill sorgen der Föhn, zeternde Münchner, rücksichtslose Stehrollerfahrer sowie hirnzersetzender Business-Sprech, der aus offenen Fenstern weht: »Ups and Downs werden uns nicht erschüttern (…) solange die höchste Visibilität gewährleistet ist und reported wird.« So wird im Münchner Alltagstreiben der Vor-Corona-Zeit der locker angesetzte Ortstermin zur nervenaufreibenden Odyssee, in die Pleschinski elegant alles eingeflochten hat, was der Leser über Leben und Werk des in Vergessenheit geratenen Dichters wissen muss – vieles davon macht neugierig. Am Ende ist die »Heyse-Gruppe« zu einem derangierten »Haufen« mutiert, der auch vor einer Invasion in fremdes, von einer Mauer geschütztes Terrain, auf dem der Götterbaum steht, nicht mehr zurückschreckt.

 

Diese Rezension wurde uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

 Florian Welle

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise die Kulturzeitung „Münchner Feuilleton“ zur Verfügung gestellt.

Der München-Roman "Am Götterbaum"

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