Heimat und Gewalt -
 

Publikationen

Heimat und Gewalt

Zwei Aufsätze zur Heimatpflege in Oberbayern

Herausgeber Göttler Norbert
Verlag Bezirk Oberbayern
Seiten 95
Gattung Aufsatz-/Artikel-Sammlung
Themenbereich Gesellschaft
Personen Thoma Ludwig, Schandbaum, Haberfeldtreiben, Judasfeuer, Juden, Homosexualität, Blauer Reiter, Räterepublik, Nationalsozialismus
Ort Dachau, München
Regierungsbezirk Oberbayern
ISBN Z000000030
Erschienen2020

5,00 € Bestellmöglichkeit

Norbert Göttler: Heimat und Gewalt - sechs Fallstudien

Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen: Heimat und Gewalt - Perspektiven aus Psychotherapie und Pädagogik

Rezension

Heimat und Gewalt

Die Jahresgabe der Bezirksheimatpflege von Oberbayern widmet sich 2020 dem Thema „Heimat und Gewalt“. Sie vereint zwei Studien, die einen „Blick auf gewaltbesetzte Pervertierungen des Heimatbegriffs“ (S. 5) gewähren und das Janusgesicht (S. 9) von Heimat offenbaren.

In sechs Fallstudien skizziert Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler Beispiele einer gewalttätigen Heimatgeschichte. Er macht dabei auf Bräuche wie das österliche Judasfeuer, auf das Aufstellen von sogenannten Schandbäumen und auf das Haberfeldtreiben aufmerksam, das sich vielfach gegen ohnehin sozial benachteiligte Menschen richtete. Darüber hinaus verweist er auf den „Heimatdichter“ Ludwig Thoma (1867–1921), der in gewaltverherrlichenden Artikeln unter anderem Juden und Homosexuelle diffamierte.

Die altbayerische Gesellschaft war von alltäglicher Gewalt geprägt, die sich beispielsweise in der unbarmherzigen Züchtigung von Kindern durch Eltern und Lehrer äußerte. Insbesondere unangepasste Künstler und Intellektuelle, wie Angehörige des „Blauen Reiters“ (ca. 1911–1914), waren Hass und Häme ausgesetzt. Auch die Gewaltexzesse an den Revolutionären und Mitläufern am Ende der Münchner Räterepublik (1919) finden Erwähnung. Und schließlich befasst sich Göttler mit der ideologischen Vereinnahmung der Stadterhebungsfeier von Dachau im Jahr 1934 – gefeiert wurde unweit des bereits etablierten Konzentrationslagers – durch die Nationalsozialisten, die Heimatfeste generell bereitwillig „förderten und für Propagandazwecke missbrauchten“ (S. 51).

Heimat, so resümiert der Herausgeber, sei „noch kein Wert an sich, es komm[e] darauf an, welche Botschaft mit diesem Wort verbunden“ werde (S. 60). Im Hinblick auf das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Deutschland, welche häufig genug den Begriff der Heimat im Munde führten, gewinne die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Heimat und Gewalt“ zunehmend an Bedeutung.

Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen nähern sich dem Thema aus Sicht der Psychotherapie und Pädagogik und entlarven gleich zu Beginn ihres Aufsatzes den Fehlschluss, in der Heimat könne man sich sicher fühlen, Gewalt würde schließlich nur von außen drohen (S. 65). Die beiden Autoren waren in ihren Tätigkeiten als Pädagogin und Psychotherapeut bereits mit vielfältigen Formen von subtiler und offener Gewalt, von Abwertungen, Ausgrenzungen und Einschüchterungen bis hin zu Misshandlungen (S. 71) konfrontiert. Besonderes Augenmerk legen sie auf die Verdrängung der Erlebnisse von in NS-Verbrechen verstrickten Vätern und Großvätern, die sich nicht selten in sexualisierter Gewalt gegen Familienangehörige Bahn brachen (S. 80ff.).

Heimat, so das Ehepaar Müller-Hohagen, sei eben nicht per se rein, schützenswert und unschuldig; vielmehr sei die heimatlich-beschauliche Idylle oft genug mit gewaltförmigen Mitteln hergestellt (S. 84f.). Das Nebeneinander von Stacheldraht und heiler Welt, von Normalität und Terror trete als conditio humana in Erscheinung (S. 86). Eine Lösung bieten die Autoren dennoch an – in der empathischen Betroffenheit angesichts der Geschichte und der daraus resultierenden verantwortungsvollen Aneignung und Weiterentwicklung von Heimat.

Beide Aufsätze eröffnen die Perspektive, dass es in der (selbst)kritischen Reflexion, selbst vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen, möglich ist, Beheimatung neu zu erfahren (S. 95). Die vorliegende Veröffentlichung bietet damit eine notwendige Erweiterung um einen bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt der Heimatgeschichtsforschung.

 Daniela Sandner

Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

Heimat und Heimaten

Als der Rezensent vor rund 25 Jahren damit begann, für die Bibliothek des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege systematisch alles zu sammeln, was an wissenschaftlichen Arbeiten, aber auch an qualitätvoller belletristischer Literatur zum Thema „Heimat“ erschien, war der Ertrag ziemlich bescheiden. Nahezu niemand interessierte sich damals beispielsweise dafür, wie und weshalb die Heimatschutzbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand, was man in den 1920er Jahren unter Heimat verstand, wie Heimat von den Nationalsozialisten missbraucht wurde und wie sentimental man mit Heimat in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs umging. Heute ist dies völlig anders: Heimat ist in aller Munde – und fast jeder glaubt, sich dazu irgendwie äußern zu müssen. Kein Wunder also, dass man jederzeit und überall etwas über Heimat lesen, hören und sehen kann. Dass dabei vieles publiziert oder gesendet wird, das man ruhigen Gewissens nicht zur Kenntnis nehmen muss, versteht sich nahezu von selbst. Doch andererseits stößt man immer wieder auf Veröffentlichungen, die sich dem Thema aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln nähern und dabei durchaus Neues und Interessantes zutage fördern.

Als erstes von fünf Beispielen sei der Sammelband „Heimat. Ein vielfältiges Konstrukt“ genannt, der laut Klappentext einen Beitrag „zur Klärung und Einordnung unterschiedlicher Positionen im Kontext des ‚umkämpften‘ Feldes Heimat“ leisten will. Dementsprechend präsentieren hier 30 renommierte Wissenschaftler aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten, was aus ihrer Perspektive zum Thema „Heimat“ zu sagen ist. So wird zum Beispiel aus psychotherapeutischer Sicht dargestellt, wie alltägliche ästhetische Wahrnehmungen das Entstehen von Heimatempfinden und Heimatbewusstsein beeinflussen und wie wichtig das Heimatbewusstsein für die psychische Gesundheit ist, während der Naturschützer danach fragt, wie Ortsidentität die Landschaft vor ihrer Zerstörung bewahrt, oder der Soziologe, mit welchen Argumenten die Heimat gegenüber der Einvernahme durch rechtspopulistische Akteure geschützt werden kann. Alles in allem also ein Band, der die ausfransende Diskussion um Heimat im Zeitalter von Globalisierung und Fragmentierung der Gesellschaft, von Einwanderung und landschaftlichen Wandlungsprozessen sowohl auf der wissenschaftlichen als auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene bereichert.

Auch das Kursbuch 198 mit dem verfremdenden Titel „Heimatt“ geht davon aus, dass die immer komplexer werdende Gesellschaft Lücken lässt, die der Einzelne für sich füllt. Was konkret dabei herauskommt, hängt natürlich davon ab, welche Neigungen und Interessen der Einzelne hat, in welcher Lebenslage er sich befindet und welchem gesellschaftlichen Milieu er angehört. Folgerichtig gehen die Autoren des Kursbuchs ganz bewusst nicht der immer wieder fast schon reflexartig gestellten Frage nach, ob es so etwas wie Heimat überhaupt gibt, und – falls ja – wie wir sie uns dann vorzustellen hätten, sondern beschäftigen sich mit Besonderheiten, die diesen Begriff prägen. Dies können Erinnerungen, einschlägige Erlebnisse, Vorstellungen, Wünsche oder auch Gefühle sein, die je nach Suchendem naturgemäß sehr unterschiedlich sind und somit erheblich dazu beitragen, dass der Begriff „Heimat“ sowohl semantisch als auch inhaltlich so schwer zu fassen ist. Umgekehrt weisen die zu Wort kommenden dreizehn Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Journalisten aber auch darauf hin, dass es trotz aller persönlichen Aneignung von Heimat auch immer um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und somit auch um die Ausgrenzung Anderer geht. Nachdrücklich erinnern sie deshalb sowohl im Rückblick auf die vergangenen Jahrhunderte als auch vor dem Hintergrund von Globalisierung, Mobilität und modernen Wanderbewegungen daran, dass es kein alleiniges Recht auf Heimat gibt, sondern jeder Einzelne auch die Heimat des Anderen zu respektieren habe.

Im Gegensatz zu den beiden von Martina Hülz, Olaf Kühne und Florian Weber sowie Armin Nassehi und Peter Felixberger herausgegebenen Sammelbänden geht es dem Kulturhistoriker und Migrationsberater Jürgen Küster nicht um das Phänomen Heimat in einem umfassenden politischen und gesellschaftlichen Kontext, sondern primär um den Zusammenhang zwischen Volkskultur und Heimat. Sowohl unter Studenten als auch im Rahmen seiner vielschichtigen Tätigkeit im Bereich der Erwachsenenbildung habe er, so Küster einführend, immer wieder festgestellt, dass engagierte Heimatfreunde und Volksvertreter gerne eine idealisierte Vorstellung von Volkskultur, Nation, Region und Geschichte hätten. Dabei seien „die Bedingungen oft unklar, unter denen die gelebten oder betrachteten Traditionen entstanden sind, welche Absichten mit ihnen verbunden waren und sind, und welche Zwecke sie verfolgen. Mit diesen Idealisierungen thronen Prämissen zu uraltem Herkommen, nationalem und – schon deshalb – wertvollem Erbe und heimatlich-regionaler Einzigartigkeit über den historischen Fakten und verstellen den kritischen Blick“. Und noch einen Schritt weiter: „Im Zuge aufgeflammter Migrations- und Integrationsfragen tauchen diese Idealisierungen nicht mehr nur im Zusammenhang von Vereinsfeiern, in Unterrichtssituationen und bei Volksfesten, sondern plötzlich auch im Rahmen politischer Auseinandersetzungen, Aufgaben und Konzepte auf“. Um nicht nur scheinbar unausrottbare Irrtümer richtigzustellen, sondern auch der von ihm heftig kritisierten Ideologisierung nüchterne Fakten entgegenzustellen, zeigt Küster an vielen Beispielen aus dem Weihnachts- und Osterfestkreis, wie sich diese religiösen Bräuche von der Spätantike über Mittelalter und Frühe Neuzeit entwickelten und wie sie stets eng in ihre Zeitepoche eingebunden waren und von ihr auch entscheidend geprägt wurden. Kurzum: Wer immer noch glaubt, dass Adventskalender, Adventskranz und Christbaum „seit urfürdenklichen Zeiten“ fester Bestandteil unserer (vor)weihnachtlichen Bräuche gewesen seien, sollte sich schleunigst diese Publikation besorgen. Denn er wird dann – nicht nur in diesem Bereich – sachkundig und überzeugend eines Besseren belehrt werden.

Wiederum einen ganz anderen Zugriff auf das Thema „Heimat“ bietet die Publikation „Heimatrauschen“, die zwar in Buchform erschienen, aber eher wie eine populäre Zeitschrift oder ein Magazin gestaltet ist: Große Überschriften, kurze, griffig formulierte Texte, viele abwechslungsreiche, mit besonderer Liebe zum Detail erstellte und mitunter ganz unerwartete Bilder unterschiedlichsten Formats sowie eine Menge an zusätzlichen, weit über das eigentliche Thema hinausgehenden Informationen. Ausgangspunkt dieser Veröffentlichung ist die seit Jahren einmal im Monat im BR gesendete gleichnamige Serie „Heimatrauschen“, in der Florian Wagner sowohl Geschichten, Menschen und Orte zusammenbringen als auch die Traditionen mit zeitgemäßen Elementen verbinden will. Obwohl er so manchem Klischee erliegt, ist ihm dies alles in allem recht gut gelungen. Ob „Fesche Frauen“, „Gstandene Männer“, „Pfundige Musik“, „Boarischer Style“, „Bsunder Sachen“, „Guede Schmankerl“, Geschmeidige Ideen“ oder „Kernige Arbeit“, wer sich vorurteilsfrei in das eine oder andere Kapitel vertieft, wird vieles finden, was er so nicht erwartet hat und ihn vielleicht gerade deshalb anspricht und dazu anregt, einmal darüber nachzudenken, wie Heimat von anderen Zeitgenossen wahrgenommen wird. So findet man etwa einen Trachtenjanker im neuen Design, ein Beispiel für eine moderne fränkische Tracht, ein Loblied auf starke Alphornbläserinnen, ein Porträt der ältesten Kellnerin Bayerns, ein Plädoyer, den klassischen Trachtenzopf zum trendigen Kopfschmuck weiterzuentwickeln, heimatliche Motive auf Tattoos, ein Rezept für Weißwürste aus dem Wok, einen Hinweis auf eine junge und wilde „Winzergeneration Y“ oder Graffiti rund um das ehrwürdige Kloster St. Ottilien.

Letztes Beispiel einer Neuerscheinung: der überzeugende Nachweis, dass es Heimat nicht nur im Singular, sondern auch im Plural gibt, oder, wie es Norbert Göttler, Bezirksheimatpfleger Oberbayerns, formuliert: „Viele von uns tragen mehrere Heimaten in ihren Herzen – regionale und kosmopolitische, kulturelle und geistige, seelische und religiöse. Was in der Theorie leicht gesagt ist, muss sich im wahren Leben erst bewähren. Wie geht man mit verlorenen und gebrochenen Heimaten um? Was ist, wenn man sich eine Zeitlang heimatlos fühlt? Wie schafft man sich neue Heimaten?“ Er hat dazu die Rektorin der Montessori-Schule Wertingen und Lehrbeauftragte für Montessori-Pädagogik an den Universitäten München, Passau und Augsburg, Ingeborg Müller-Hohagen (geb. 1938 in Dresden), sowie deren Ehemann, den Psychologen und Psychotherapeuten Dr. Jürgen Müller-Hohagen (geb. 1946 in Hohenlimburg bei Hagen) befragt. Herausgekommen ist dabei ein an den Seitenzahlen gemessen zwar nur schmaler Band, der es aber dennoch in sich hat. In Form von einprägsamen Bildern und kurzen Berichten unternehmen die beiden Autoren, die vielfach nicht nur in Deutschland ihren Wohnort wechselten, sondern auch in Italien ansässig sind, eine eindrucksvolle Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart – und versuchen dabei unter anderem Antworten auf folgende Fragen zu geben: „Wo befindet sich unsere erste Heimat?“, „Was für Heimaten kommen für uns noch in Frage?“, „Was bedeutet Heimat in Zeiten immer noch weiter erhöhter Mobilität, gesellschaftsweiter Spaltungen rund um Migration, Fremdheit und Fremde, angesichts von offenen und verborgenen Globalisierungsängsten?“ oder „Was für Folgen hat es, wenn Heimat die angestaubten Ecken, in denen sie viele Jahre dahinvegetierte, plötzlich verlässt?“ Kein Zweifel also: Dies sind elementare Fragestellungen, mit denen sich das Ehepaar Müller-Hohagen auf sehr persönliche Weise auseinandersetzt. Dabei räumen sie bereits einleitend ein, dass sie ihre Überlegungen – so wie letztlich alle Autoren, die sich mit der Heimat befassen – anstellen „ohne den Anspruch zu letzten Gewissheiten kommen zu müssen. Dafür ist dieses Thema viel zu komplex.“

 Wolfgang Pledl

Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.

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