In seinem umfassenden Werk „Wachs zwischen Himmel und Erde“ hat Hans Hipp einen Bereich der Kulturgeschichte aufgearbeitet, der zunehmend in Vergessenheit gerät, obschon es sich um eine volkskundliche Besonderheit handelt. Als Besitzer der seit dem Jahr 1610 am Hauptplatz in Pfaffenhofen a. d. Ilm nachgewiesenen Lebzelterei und Wachszieherei hat er sich über mehr als 40 Jahre mit dem Thema Wachs und dessen Bedeutung für die Herstellung von Opfer- und Dankesgaben im Wallfahrtswesen beschäftigt. Die in kunstvoll gefertigten hölzernen Modeln gegossenen Votivgaben dienten – neben Votivtafeln und Votiven aus Holz oder Eisen – über Jahrhunderte hinweg, insbesondere auf dem Höhepunkt der Volksfrömmigkeit und des Wallfahrtswesens in der Barockzeit, den Menschen als wichtiger Helfer in Notzeiten.
Die katholische Bevölkerung in Altbayern und im gesamten süddeutschen Raum brachte eine Vielzahl an unterschiedlich gestalteten, in Wachs gegossenen Darstellungen von Tieren, Menschen, „Fatschenkindern“ oder Körperteilen als Gaben in die Wallfahrtskirchen in der Hoffnung auf Heilung von speziellen körperlichen Leiden oder zur Abwehr von Gräueln und Plünderung in Not- und Kriegsjahren. Mit der Bitte um Schutz vor Krankheit und Drangsalen, vor Unglück in der Familie und vor Viehseuchen, aber auch aus Dank für unerwartete, „wundersame“ Hilfe suchten die Bittsteller (sogenannte Votanten) insbesondere ab dem 17. Jahrhundert die immer zahlreicher werdenden Gnadenstätten auf, um sich mit ihren Anliegen direkt an die Gottesmutter oder an dort verehrte Heilige zu wenden.
Bei seinen Recherchen zur Produktion und zur Verwendung von Votivgaben stieß Hans Hipp quasi vor Ort auf eine besondere Konstellation. Die nahe Wallfahrt zur rund zwei Kilometer entfernten Kirche Mariä Verkündigung in Niederscheyern sorgte mehrere Jahrhunderte hindurch für eine sichere Nachfrage nach den Wachswerken aus Pfaffenhofener Fertigung. Die bis heute unterschätzte Wallfahrt – sie ist nirgendwo in der einschlägigen Literatur erwähnt – ließ zahlreiche Menschen zur Kirche pilgern, um am Gnadenbild der Mutter Gottes eine Votivgabe zu hinterlegen, oft verbunden mit einer Votivkerze, einer Spende „in den Stock“ oder einer Messstiftung.
Die Strahlkraft der Wallfahrt nach Niederscheyern machen die im nahen Kloster Scheyern verwahrten Mirakelbücher sichtbar. Zehn Bände mit rund 20 000 Eintragungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert schildern die Anliegen der zur Kirche pilgernden Menschen aus nah und fern. Dabei werden auch die Hoffnungen der Votanten sicht- und geradezu spürbar. Wiederholt finden sich Hinweise darauf, was die Bittsteller an Votivgaben zur Kirche brachten. Ausgewählte Beispiele aus den Mirakelbüchern lassen die Verknüpfung von Wachsproduktion für Votive und unmittelbarer Verwendung für ein konkretes Anliegen zu Tage treten. Die Einträge, die im originalen Wortlaut der Zeit wiedergegeben sind, machen auch ein Stück Zeit- und Mentalitätsgeschichte sichtbar. In Zeiten von Kriegen und Seuchen suchte die Bevölkerung Halt bei einer höheren Macht und bat aus tiefem katholischen Glauben heraus um Hilfe bei einem Heiligen oder bei Maria als bayerischer Landesmutter. Die fest verwurzelte Volksfrömmigkeit, die im Zeitalter der Gegenreformation ihren Höhepunkt erlebte, bildet zugleich ein Gegenstück zum Bild des strafenden und zürnenden Gottes, das die bayerischen Herzöge und Kurfürsten in ihren Landgeboten und Mandaten (Rechtserlassen zu speziellen Themen) zur Disziplinierung ihrer Untertanen schufen.
Durch die Symbiose von zwei gänzlich unterschiedlichen Quellengattungen – den Modeln mit den Abgüssen einerseits und den Mirakelbüchern andererseits – wird die einmalige Verknüpfung von Produktion, Ausbreitung und Zweck der Wachsfabrikation aus der traditionsreichen Pfaffenhofener Wachszieherei deutlich. Zahlreiche Wachsvotive fanden ihren Weg in das nahe Niederscheyern und waren zugleich wichtige Einnahmequelle der Wachszieher und Lebzelter, die als einzige Berufsgruppe Honig und Wachs der Bienen verarbeiten durften und mit einer nahe gelegenen Wallfahrt ein gutes wirtschaftliches Fundament besaßen.
Die umfassende Darstellung, der ein einführendes Vorwort der Volkskundlerin Nina Gockerell vorangestellt ist, zeigt in zahlreichen, von Hans Hipp selbst gefertigten hochwertigen Fotografien die Vielfalt der Votivgaben. Als Besonderheit sind neben dem Abguss der Votivdarstellungen immer auch die jeweiligen Model abgebildet, aus denen die Objekte in einem aufwendigen Verfahren kunstvoll „bossiert“ wurden, darunter das älteste im Familienbesitz befindliche, das auf das Jahr 1684 datiert ist. Der Verfasser richtet in seiner Darstellung den Blick aber auch über das eigene Unternehmen hinaus auf weitere namhafte Wachszieher, die Votive fertigten, etwa in Tölz, Wasserburg, Altötting oder München, wo die namhaften Hersteller Gautsch und Ebenböck hochwertige Arbeiten schufen, die ebenfalls Aufnahme in das Buch fanden.
Einzelne Kapitel liefern Informationen zum geschichtlichen Hintergrund und zur Ausbreitung des Votivwesens im süddeutschen Raum. Der Zusammenhang zwischen der Schulmedizin und der „Heilkunst“ wird ebenso thematisiert wie die Symbolsprache der Wachsarbeiten, die für spezielle Zwecke bestimmt waren. Augen, Zähne und innere Organe standen für jeweilige Leiden, das Motiv der Kröte fand bei Unterleibsbeschwerden oder Kinderlosigkeit Verwendung. Darstellungen der Bittsteller selbst in betender Haltung, zum Teil fast lebensgroß, blieben als kostspieligste Art der Votivkultur der reichen Schicht vorbehalten. Über die Verknüpfung mit den Mirakelbüchern lassen sich zeit-, mentalitäts- und medizingeschichtliche Fragestellungen aufgreifen, die interessante Einblicke in die barocke Lebenswelt der Landbevölkerung erlauben.
Die vorliegende, reich bebilderte und sorgfältig gestaltete Gesamtdarstellung, an die sich ein ausführliches Literaturverzeichnis anschließt, darf als die wohl letzte Gelegenheit gesehen werden, dieses volkskundlich bedeutende Thema umfassend darzustellen. Hans Hipp ist dies sowohl über sein aus der eigenen Familie überliefertes Wissen als auch dank reicher Erkenntnisse aus Archivrecherchen und zahlreichen Fahrten zu auswärtigen Fertigungsstätten trefflich gelungen.
Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.