Dieses Buch war notwendig. Denn es öffnet Augen und revidiert Vorurteile. Eingangs zitiert die Architekturhistorikerin Kaija Voss anlässlich des Bauhausjubiläums 2019 den damaligen bayerischen Kultusminister Ludwig Spaenle mit den Worten, dass „ein nennenswertes Wirken des Bauhauses und seiner wichtigen Akteure in Bayern“ nicht zu belegen sei. Der handliche, übersichtliche und mit Genuß zu lesende und zu betrachtende Band mit meisterlichen Fotografien von Jean Molitor beweist Seite für Seite das Gegenteil. Der Band ist Teil des Projekts bau1haus, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bauhausarchitektur weltweit fotografisch zu dokumentieren und wissenschaftlich zu erforschen.
Fünf Essays von Kaija Voss sind den lichtdurchfluteten Aufnahmen des Fotografen Jean Molitor vorangestellt. Die Anfänge der Moderne in Bayern bilden den Auftakt. Anhand der von 1904 bis 1908 erbauten Anatomie von Max Littmann benennt Voss funktionale und gestalterische Prinzipien, die das Bauhaus einige Jahre später konsequent weiterentwickelte. Sie weist auch auf mehrere bayerische Architekten hin, die in diesem Umfeld vor dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang nahmen und später im Austausch mit dem Bauhaus in Dessau standen oder dort studierten, wie z. B. Otho Orlando Kurz, der u. a. an der stadtbildprägenden Siedlung Neuhausen in München mitwirkte oder Philipp Tolziner, der Reihenhäuser für Tel Aviv entwarf und Bauleiter in Dessau-Törten war. Der Abschnitt über die bayerische Postbauschule, die eng mit Robert Vorhoelzer verbunden ist, dürfte eine Baugruppe berühren, die vielen Zeitgenossen aus eigener Anschauung im Alltag ein Begriff ist. Auch hier gelingt es Voss, über zahlreiche Querbezüge der Beteiligten die Verbindungen und Einflüsse mit und aus dem Bauhaus greifbar zu machen. Die Aktivitäten der einstigen Dienststelle der Reichspost in München, deren Leiter Vorhoelzer im Übrigen zeitgleich mit Walter Gropius an der Technischen Hochschule München (seit 1970 Technische Universität) studiert hatte, sind Legion: viele größere, aber auch kleinere Städte Bayerns besitzen bis heute Bauten, die von der Kreativität und Sensibilität ihrer Schöpfer zeugen. Sie sind immer geschickt in den jeweiligen städtebaulichen Zusammenhang eingefügt, beachten die örtlichen Proportionen (Fürstenfeldbruck, Postamt, 1930), wirken platzbildend (München, Postamt am Harras, 1930–1933), greifen auch lokale Architekturtraditionen auf (Kochel, Werkstattgebäude und Verstärkeramt, 1927, abgerissen 2021) und scheuen sich auch nicht, neue städtebauliche Dominanten (Coburg, Hauptpost, 1929–1931) zu formen. Sie erfüllen damit das, was man gemeinhin als Anspruch an gute Architektur zu formulieren pflegt – bis heute.
Auch den Wohnbau beleuchtet die Autorin, nicht ohne auf den zeitgenössischen Widerwillen der beteiligten kommunalen Akteure, wie den Münchner Oberbürgermeister Scharnagl einzugehen. Dieser erkannte letztlich ganz pragmatisch, dass die an Effizienz und Sparsamkeit ausgerichtete Architektur, wie die erwähnte Siedlung Neuhausen, seinen grundsätzlichen Intentionen entgegenkam. Aus heutiger Sicht ist die Großzügigkeit auch sogenannter Kleinwohnungen erstaunlich – von minderer Gestaltung ist hier sicher nicht zu sprechen.
Ein weiterer Abschnitt weitet den Blick auf Büro- und Verwaltungsbauten, Sozialbauten und Kirchen. Hier wird die Vielfalt in Form, Material sowie städtebaulicher Wirksamkeit besonders deutlich. Modern zu bauen bedeutete eben nicht, nur weiße Kuben mit Lochfenstern zu produzieren, wie der ein oder andere meinen mag, sondern sich intensiv mit dem Geist des Orts und der Aufgabe auseinanderzusetzen. Das städtische Hochhaus in München an der Blumenstraße (1927–1929) mit seiner die Türme der Frauenkirche zitierenden Backsteinhaut kann hier als pars pro toto stehen. Es ist, wie fast alle anderen in diesem Band vorgestellten Bauten, in die bayerische Denkmalliste eingetragen. Der kürzlich erfolgte Abriss des Verstärkeramts in Kochel belegt schmerzlich, dass auch für diese Architekturschöpfungen Denkmalschutz und Denkmalpflege notwendig ist.
Jean Molitor setzt mit seinen Fotografien im Rahmen des Projekts bau1haus und damit auch in diesem Buch auf die universale Verständlichkeit der Bilder und inszeniert die Motive als lichtüberflutete Bauten der Moderne. Die so gut wie menschenleeren Aufnahmen blenden auch durch geschickte Wahl des Aufnahmestandorts die Hektik und Hinterlassenschaften des Verkehrs in Form von Stromleitungen, Ampeln etc. weitgehend aus. Molitors Bilder erreichen durch die leicht überhöhten Schrägansichten die Tiefe und Plastizität, die die dreidimensionale Kunst der Architektur auch in der zweidimensionalen Kunst der Fotografie spürbar macht. Mit nur einem Foto pro Objekt arbeitet Molitor das Wesentliche dieser Bauten heraus, er verzichtet gänzlich auf Detailstudien und erliegt nicht der Versuchung dokumentarisch komplett abzubilden. Dadurch wirken die Bauten, gerade in der Reihung, noch mehr als künstlerisch gestaltete Individuen, bei denen das Selbststudium zu Entwicklungslinien, grundlegenden Gestaltungsmitteln und deren Variation regelrecht Freude macht.
Das Buch, das sich als „fotografische Reise“ versteht und daher konsequent auf Pläne oder Grundrisse verzichtet, endet mit einem zukunftsweisenden Ausblick: Das Autorenteam stellt mit einem Blick auf die Nachkriegsmoderne sowie die letzten großen Industriebauten von Walter Gropius in Bayern, nämlich die Porzellanfabrik der Rosenthal GmbH in Selb (1965–1967) sowie das Rosenthal Glaswerk in Amberg (1967–1970) das Fort-, besser das Wiederaufleben des Bauhausgedankens in seinem Ursprungsland dar, aus dem es zur Zeit des Nationalsozialismus ab 1933 zusammen mit seinen Akteuren, etlichen davon mit jüdischem Hintergrund, so schmählich vertrieben worden war. Mehr noch: Die letzten Bildbeispiele aus München (Weißes Quartier, 2019, und „neue balan – Campus der Ideen“, ab 2007) belegen den zeitlosen Einfluss von Prinzipien der Bauhausarchitektur auf die gegenwärtige Architektur. Bauhaus in Bayern, das ist Vielfalt, das ist Qualität in Proportion und Gestaltung, die dem Gefüge der als historisch oder traditionell empfundenen Architektur viel nähersteht, als man auf den ersten Blick glauben mag. In der Bauhausarchitektur liegt auch das Potential, Bauaufgaben der Zukunft zu inspirieren und zu gestalten. Auch deshalb ist dieses Buch notwendig!
Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.