Heimatpflege hat die Aufgabe, kulturelle Überlieferungen zu bewahren und verantwortungsvoll weiterzuentwickeln. Auch der Bayerische Landesverein für Heimatpflege verfolgt diese Zielsetzung, wie sie etwa im Untertitel „erhalten und gestalten“ der „Schöneren Heimat“ zum Ausdruck kommt. Heimatpflege beschäftigt sich also maßgeblich mit gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die sich in zunehmendem Maße auf unsere alltägliche Lebenswelt auswirken. Doch wie macht man dergleichen Umbrüche bewusst? Ein probates Mittel, Transformationsprozesse sichtbar zu machen, sind Fotos aus vergangenen Zeiten, die – teils subtil, teils drastisch – vor Augen führen, wie sehr sich in nur wenigen Jahrzehnten die Lebens-, Arbeits- und Wohnweise der Menschen, aber auch die Siedlungen und Kulturlandschaften gewandelt haben.
Einen solchen Weg der bildlichen Veranschaulichung wählt auch das Buch „ausgesprochen bayerisch“, das begleitend zur gleichnamigen Sonderausstellung in den Räumen der Fachberatung Heimatpflege des Bezirks Oberbayern in Benediktbeuern erschien und Fotos aus den 1950er Jahren von Paul Ernst Rattelmüller zeigt.
Rattelmüllers Bilder werfen einen Blick auf „Lebensart, Handwerk und Bräuche in Oberbayern“, wie es im Untertitel der Publikation heißt. Die Fotos sind teilweise zwar nicht von bester technischer Qualität – teils sind sie etwas unscharf, blass, farbstichig oder schlecht ausgeleuchtet – doch vermitteln sie nicht zuletzt dadurch ein hohes Maß an Authentizität. Der Fotograf hat sich merklich auf die Funktion eines Beobachters und Dokumentaristen zurückgezogen, worin er sich beispielsweise wohltuend von der bekannten zeitgenössischen Fotografin Erika Groth-Schmachtenberger unterscheidet, deren Bilder oftmals zwar ausdrucksstärker und künst- lerisch ansprechender wirken, zugleich aber auch einen unverkennbar inszenatorischen Impetus aufweisen.
Die Anordnung der zahlreichen Fotos im vorliegenden Bildband erfolgte überraschenderweise nicht nach thematischen Kriterien, wie dies üblicherweise der Fall ist. Vielmehr ranken sie sich um 70 eigentümliche Dialektwörter aus dem Bairischen, die in alphabetischer Abfolge von „Aprui-Aff“ über „Hacklstecka“, „Progroda“ und „Schnaggler“ bis zu „Wanznpress“ reichen. Jeder dieser Begriffe ist mit kurzen Erläuterungen versehen, die den Büchern „Irxenschmoiz und Wedahex“ sowie „Ohrwuzler und Zeiserlwagen“ (erschienen 2014 und 2015) von Norbert Göttler, dem Bezirksheimatpfleger von Oberbayern, entnommen sind. Göttler vermittelt dabei seine historisch-sprachwissenschaftlichen Hintergrundinformationen zu den jeweiligen Wörtern in einem angenehm zu lesenden erzählerischen, mit feinsinnigem Humor unterlegten Schreibstil. Texte und Bilder fügen sich damit zu einer reizvollen Einheit zusammen, obschon – oder gerade weil? – sie teils unterschiedlichen inhalt-lichen Kontexten entnommen sind. Der Bildband gewinnt dadurch jedenfalls eine zusätzliche Dimension hinsichtlich der Darstellung „versunkener Lebenswelten“ (Einleitung).
Paul Ernst Rattelmüller war von 1973 bis 1989 Bezirksheimatpfleger des Bezirks Oberbayern. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass seine Fotoschätze beim dortigen Fachreferat Heimatpflege verwahrt werden. Es ist erfreulich, dass sein Nachnachfolger Norbert Göttler einen Teil davon für das vorliegende Buch und die zugehörige Sonderausstellung zur Verfügung gestellt hat. Auffällig an der vorgestellten Bildauswahl ist allerdings die Tatsache, dass die Motive fast ausschließlich aus dem traditionellen ländlich-bäuerlichen Leben gegriffen sind. Zwangsläufig stellt sich daher die Frage, ob Rattelmüller mit seiner Kamera darüber hinaus auch die Veränderungen festgehalten hat, die schon in den 1950er Jahren unverkennbar waren, sei es hinsichtlich der Kleidungsweise der Menschen, der baulichen Entwicklung der Dörfer oder der autogerechten Umgestaltung der Städte. Diesbezüglich scheint die Fotosammlung von Rattelmüller noch so manches spannende und erschließenswerte Potenzial zu bieten, umso mehr als der streitbare Dokumentarist und Heimatpfleger bei allem Engagement für die Bewahrung der Traditionen ein entschiedener Kämpfer gegen das „Sepplbayerntum“ war. Wie sehr ihm dieses immer stärker um sich greifende Bayern-Klischee ein Graus war, brachte er 1996 in einem Fernsehinterview mit den galligen Worten zum Ausdruck: „Diese ewig jodelnden, gamsbartbewehrten, lederbehosten, wildernden, fensterlnden, raufenden Halb- und Volldeppen! Das Bild liefern unsere Landsleute selbst, der Fremde glaubt’s nur.“
Diese Buchbesprechung hat uns die „Zeitschrift „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.