16.07.2021 | Daniela Sandner
Die ländlichen Räume in Bayern sind mit großen Herausforderungen konfrontiert, allen voran mit dem demografischen Wandel, der absehbar zu tiefgreifenden regionalen Ungleichheiten führen wird. Dabei erscheint die grundlegende Verschiedenartigkeit von Stadt und Land nicht nur als allgegenwärtiges Narrativ, sondern auch als unmittelbare Erfahrung von jungen Menschen.
Mit deren Bleibe- und Abwanderungsmotiven beschäftigt sich das von der Katholischen Landjugendbewegung Bayerns (KLJB) getragene Forschungsprojekt „Stadt. Land. Wo? Was die Jugend treibt.“ Hierzu wurden von Mitte 2017 bis Ende 2019 rund 600 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 16 bis 27 Jahren befragt. Die vorliegende Publikation bündelt die Forschungsergebnisse sowie insgesamt acht Gastbeiträge, unter anderem von Manfred Miosga (Präsident Bayerische Akademie Ländlicher Raum, Universität Bayreuth), Frank Tillmann (Deutsches Jugendinstitut) und Heiko Tammena (Landesstelle der KLJB).
Die der Untersuchung zugrunde liegenden Fragen lauten: „Was bewegt junge Leute, auf dem Land zu bleiben? Was bewegt sie, wegzugehen oder wieder zurückzukehren?“ Die Studie zeigt, dass es vor allem die sogenannten weichen Faktoren sind, die über Gehen, Bleiben und Wiederkommen entscheiden. Ausschlaggebend hierfür seien vor allem die sozialen Bindungen an Familie und Freunde, das Eingebundensein in soziale und/oder kulturelle Gruppen oder Vereine, aber auch das Vorhandensein einer guten Infrastruktur und von Arbeitsplätzen.
Aus Sicht der Befragten weisen ländliche Räume aber gerade hier Defizite auf: Kritik wird besonders eindringlich geübt an schlechter Internetverbindung und mangelhaften Mobilfunknetzen, an der Unattraktivität des öffentlichen Nahverkehrs und am ungeeigneten Wohnungsangebot. Es sei, so eine Erkenntnis der Studie, in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen, eine ausreichende Angleichung der Lebensbedingungen herzustellen (S. 71), obschon – so Manfred Miosga – der Staat als Gewährleister und Befähiger, die Region als Ausgestalterin von Vielfalt diesbezüglich in der Pflicht seien (S. 76).
Immerhin erweisen sich junge Menschen, wenn bestimmte Faktoren wie Naturnähe sowie familiäre und soziale Verbundenheit gegeben sind, durchaus als „strapazierfähig“ (S. 92) und nehmen das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz (S. 68) beziehungsweise eine geringere Entlohnung auf dem Land (S. 170) in Kauf. Ländliche Räume erscheinen daher keineswegs als abgehängt und defizitär, wie im medialen Diskurs vermittelt, sondern als lebens- und liebenswerte Heimat (S. 208).
Der große Zugewinn der Studie liegt an der umfassenden Zusammenschau von konkreten Handlungsvorschlägen jenseits von Breitband- und ÖPNV-Ausbau: Jugendliche auf dem Land klagen beispielsweise ebenso häufig wie in der Stadt über fehlende (auch unorganisierte) Räumlichkeiten, und dort, wo Hütten oder Bauwagen existierten, seien diese von den Erwachsenen nicht immer akzeptiert. Es sei daher notwendig, in beständigem Austausch mit jungen Menschen zu stehen, einen Dialog auf Augenhöhe (S. 127) zu führen und Bedürfnisse anzuerkennen. Denn letztlich sei es kommunale Pflichtaufgabe, Partizipationsformen für Jugendliche und junge Erwachsene zu erproben und zu etablieren; dazu müssen sie frühzeitig in Entscheidungsprozesse einbezogen werden (S. 211). Die politische und gesellschaftliche Unterstützung der Arbeit von (selbstorganisierten) Jugendverbänden, das Schaffen sogenannter Jugendparlamente (S. 130) und andere Projekte, die Beteiligung ermöglichen, können in Zukunft Bleibe- und Rückkehrentscheidungen zugunsten des ländlichen Raumes beeinflussen – und „ganz nebenbei“ eine demokratiefreundliche Kultur gestalten (S. 126).
Übrigens: Eine Fachtagung, die sich mit Ergebnissen und Impulsen der Studie befasst, wird vom 4. bis 5. Dezember 2020 in Niederalteich (Lkr. Deggendorf) stattfinden. Hinweise zur Anmeldung sind abrufbar unter www.kljb-bayern.de
Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.
16.07.2021 | Daniela Sandner
Die Jahresgabe der Bezirksheimatpflege von Oberbayern widmet sich 2020 dem Thema „Heimat und Gewalt“. Sie vereint zwei Studien, die einen „Blick auf gewaltbesetzte Pervertierungen des Heimatbegriffs“ (S. 5) gewähren und das Janusgesicht (S. 9) von Heimat offenbaren.
In sechs Fallstudien skizziert Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler Beispiele einer gewalttätigen Heimatgeschichte. Er macht dabei auf Bräuche wie das österliche Judasfeuer, auf das Aufstellen von sogenannten Schandbäumen und auf das Haberfeldtreiben aufmerksam, das sich vielfach gegen ohnehin sozial benachteiligte Menschen richtete. Darüber hinaus verweist er auf den „Heimatdichter“ Ludwig Thoma (1867–1921), der in gewaltverherrlichenden Artikeln unter anderem Juden und Homosexuelle diffamierte.
Die altbayerische Gesellschaft war von alltäglicher Gewalt geprägt, die sich beispielsweise in der unbarmherzigen Züchtigung von Kindern durch Eltern und Lehrer äußerte. Insbesondere unangepasste Künstler und Intellektuelle, wie Angehörige des „Blauen Reiters“ (ca. 1911–1914), waren Hass und Häme ausgesetzt. Auch die Gewaltexzesse an den Revolutionären und Mitläufern am Ende der Münchner Räterepublik (1919) finden Erwähnung. Und schließlich befasst sich Göttler mit der ideologischen Vereinnahmung der Stadterhebungsfeier von Dachau im Jahr 1934 – gefeiert wurde unweit des bereits etablierten Konzentrationslagers – durch die Nationalsozialisten, die Heimatfeste generell bereitwillig „förderten und für Propagandazwecke missbrauchten“ (S. 51).
Heimat, so resümiert der Herausgeber, sei „noch kein Wert an sich, es komm[e] darauf an, welche Botschaft mit diesem Wort verbunden“ werde (S. 60). Im Hinblick auf das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen in Deutschland, welche häufig genug den Begriff der Heimat im Munde führten, gewinne die Auseinandersetzung mit dem Komplex „Heimat und Gewalt“ zunehmend an Bedeutung.
Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen nähern sich dem Thema aus Sicht der Psychotherapie und Pädagogik und entlarven gleich zu Beginn ihres Aufsatzes den Fehlschluss, in der Heimat könne man sich sicher fühlen, Gewalt würde schließlich nur von außen drohen (S. 65). Die beiden Autoren waren in ihren Tätigkeiten als Pädagogin und Psychotherapeut bereits mit vielfältigen Formen von subtiler und offener Gewalt, von Abwertungen, Ausgrenzungen und Einschüchterungen bis hin zu Misshandlungen (S. 71) konfrontiert. Besonderes Augenmerk legen sie auf die Verdrängung der Erlebnisse von in NS-Verbrechen verstrickten Vätern und Großvätern, die sich nicht selten in sexualisierter Gewalt gegen Familienangehörige Bahn brachen (S. 80ff.).
Heimat, so das Ehepaar Müller-Hohagen, sei eben nicht per se rein, schützenswert und unschuldig; vielmehr sei die heimatlich-beschauliche Idylle oft genug mit gewaltförmigen Mitteln hergestellt (S. 84f.). Das Nebeneinander von Stacheldraht und heiler Welt, von Normalität und Terror trete als conditio humana in Erscheinung (S. 86). Eine Lösung bieten die Autoren dennoch an – in der empathischen Betroffenheit angesichts der Geschichte und der daraus resultierenden verantwortungsvollen Aneignung und Weiterentwicklung von Heimat.
Beide Aufsätze eröffnen die Perspektive, dass es in der (selbst)kritischen Reflexion, selbst vor dem Hintergrund von Gewalterfahrungen, möglich ist, Beheimatung neu zu erfahren (S. 95). Die vorliegende Veröffentlichung bietet damit eine notwendige Erweiterung um einen bislang weitgehend vernachlässigten Aspekt der Heimatgeschichtsforschung.
Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.