19.11.2018 | Gabriella Lorenz
Zwischen Historie und Fiktion: Cornelia Naumanns Roman erinnert an Münchens vergessene Revolutionärin Sonja Lerch.
Jüdin, Sozialistin, Russin, Friedensaktivistin und zudem promoviert in Nationalökonomie – damit machte sich eine Frau im Ersten Weltkrieg bei den Deutschen nicht beliebt. Und dazu war Sarah Sonja Lerch eine flammende Revolutionsagitatorin. Heute ist sie fast vergessen. Ihr wechselhaftes Leben hat Cornelia Naumann in einen Roman gegossen. Die Autorin hat viel recherchiert, die historischen Fakten stimmen, aber mit dichterischer Freiheit erfindet sie Figuren und deren Motive.
Die Fakten: Geboren 1882 in Warschau als Tochter des Rabbiners und Wissenschaftlers Saul Pinchas Rabinowitz, wächst Sarah Sonja auf in einer politisch aktiven Familie aus Russland. Schon als Schülerin engagiert sie sich im illegalen sozialdemokratischen »Bund«, der für eine jüdische Autonomie in Russland kämpft. Sie studiert in Wien, übersiedelt 1905 nach Odessa, flieht 1907 von dort über Konstantinopel nach Frankfurt, wo ihre Eltern mittlerweile leben. An der Uni Gießen macht sie ihren Doktor, heiratet 1912 den Romanisten Eugen Lerch und zieht mit ihm nach München in die Schwabinger Clemensstraße. Lerch ist nicht revolutionär gesinnt, ihm zuliebe hält sie sich ein paar Jahre politisch zurück. Doch Ende Januar 1918 treibt es sie auf die Straße, neben Kurt Eisner agitiert sie für einen Generalstreik, um den Krieg zu beenden. Am 1. Februar wird sie verhaftet, am 29. März findet man sie erhängt in ihrer Zelle in Stadelheim. Ob es wirklich Selbstmord war, wurde nie geklärt.
Sonja war zweifelsohne eine leidenschaftliche und schwierige Persönlichkeit – vielleicht mit Tendenz zum Manisch-Depressiven. Bereits 1908 schrieb ihr besorgter Vater an seine Tochter Rosa, Sonja sei »entre nous gesagt gemütskrank«. Sie muss eine mitreißende Rednerin gewesen sein, ihre Gegner schmähten sie als »russische Steppenfurie«. Naumann schönt ihr Bild wohl ein bisschen, bedient sich auch mancher Floskeln: Immer wieder lodern Sonjas »zornige Kohleaugen«. Der Roman konzentriert sich auf die Spanne von Ende Januar bis zum Tod Sonjas. In Rückblenden durchlebt sie die Vergangenheit: Familienalltag in Warschau, Kämpfe in Odessa, Untergrundarbeit mit Attentatsplanungen und Waffenschmuggel, bürgerlich-akademisches Heim in München. Die Autorin zeichnet Sonjas Lebenswelten anschaulich, lebendig, lokal atmosphärisch. Und psychologisch einfühlsam – wenn Sonja die Geliebte ihres Mannes entdeckt.
Vieles erzählt Sonja der jungen Arbeitergenossin Fritzi, die sie als Einzige im Gefängnis besucht unter dem Vorwand, sie sei ihr Dienstmädchen. Historisches Vorbild für Fritzi war die Mitstreiterin Trude Thomas, die zu Sonja in der Haft Kontakt hielt. Frei erfunden sind dagegen Sonjas Jugendliebe Jankele und ihr Liebhaber Achad, der sich als Agent und Personifikation der Todfeinde, der Schwarzhunderter, entpuppt. Diese rechtsextremen Nationalisten waren der zaristischen Geheimpolizei Ochrana eng verbunden, wegen angeblich von Juden begangener Kindermorde zettelten sie Pogrome an wie das Massaker 1905 in Odessa. Dass die Ochrana in Deutschland emigrierte Russen bespitzelte, ist belegt.In depressiven Phasen hofft Sonja auf ihren Ehemann, der noch am Tag ihrer Verhaftung die Scheidung einreicht, um seine Uni-Karriere zu sichern. Das versteht sie ja, aber deswegen stirbt doch die Liebe nicht! Hoffnung, Verzweiflung, immer wieder Verhöre (nach den Aktenprotokollen). Und rasende Zahnschmerzen, doch ein Arzt wird ihr verweigert. Das Ende hält die Autorin bewusst offen: Ihre Protagonistin bleibt stolz und kämpferisch. Zwischen Fiktion und Historie ist das eine spannende Auseinandersetzung mit einer Zeit des großen Umbruchs. Und Anlass, aus dokumentarischer Ergänzungsliteratur mehr über Sonja Lerch zu erfahren.
Diese Rezension wurde uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.
Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.