Rezensionen
 

Herzfaden

Thomas Hettche, Jahrgang 1964, war gerade im Einschulungsalter, als das Urmel aus dem Eis und der Kleine König Kalle Wirsch auf den deutschen Fernsehbildschirmen erschienen und sein Herz eroberten. Diese beiden Serien sind freilich nur ein geringer Teil dessen, was die Marionettenbühne aus Augsburg für das TV-Publikum in Szene gesetzt hat und wofür sie berühmt geworden ist. Der Klappentext von Herzfaden hat sicher recht mit der (erstaunlich unpoetischen) Formulierung „Die Augsburger Puppenkiste gehört zur DNA dieses Landes“. Auch wenn die wenigsten Marionetten-Fans das eigentliche Theater im Augsburger Heilig-Geist-Spital besucht haben dürften, ist es geradezu eine geniale Idee, einen „Roman der Augsburger Puppenkiste“ zu schreiben. Mit diesem Untertitel auf dem Cover erreicht man leicht Leser.

Gleich die ersten Absätze führen ins Foyer des Theaters, zu einem namenlosen Mädchen, das sich nach einer Vorstellung vor seinem Vater versteckt. Traurig, doch neugierig entdeckt es eine Wendeltreppe, die auf einen geheimnisvollen Dachboden führt. Dort trifft das Mädchen nicht nur auf die lebendig gewordenen Marionetten des Theaters, sondern auch auf deren „guten Geist“, Hannelore „Hatü“ Marschall-Oehmichen, die die meisten Figuren geschnitzt hat. Im Dämmerlicht des Dachbodens erzählt Hatü dem Mädchen und den Lesern die Geschichte der Puppenkiste, die zugleich die Geschichte ihrer eigenen Kindheit und Jugend ist. Sie reicht zurück bis in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Mit den Augen der jungen Hatü verfolgt Thomas Hettche den beklemmenden Alltag in Augsburg zwischen Verdunkelung und dem Verschwinden jüdischer Freundinnen und Nachbarn aus dem öffentlichen Leben bis hin zu ihrer Deportation. Die Familie Oehmichen gehört zu kulturellen Zirkeln, die sich durch die Zeiten lavieren. Hatüs Vater Walter ist als Schauspieler, Regisseur und Oberspielleiter des Augsburger Stadttheaters einerseits aufgestiegen zum schwäbischen Landesleiter der nationalsozialistischen Reichstheaterkammer, inszeniert aber andererseits verbotene Stücke wie den Kreidekreis von Klabund. Seine erste Marionettenbühne, der „Puppenschrein“, geht beim verheerenden Luftangriff auf Augsburg am 25. Februar 1944 in Flammen auf. Hatü findet in den Trümmern kaum mehr als einen „Fetzen des seidenen hellblauen Vorhangs“. Er „flattert, unbegreiflicherweise unversehrt und leuchtend wie je, im heißen Wind, der durch die Ruine streicht.“ Eine der ersten Figuren des neuen Marionettentheaters, der „Puppenkiste“, wird dann der Tod sein, ein Gerippe mit erschreckend beweglichen Knochen.

Thomas Hettche hat bei seinen Recherchen viele Gespräche mit der Schwester und dem Sohn der 2003 in Augsburg verstorbenen Hannelore Marschall-Oehmichen geführt. So ist diese literarische Biographie der Puppenkiste, gespeist aus Erinnerungen der Familie, eindringlich geraten. Und die meisten Leser dürfte sie immer wieder verblüffen. Wem ist schon bekannt, dass Walter Oehmichen nach 1945 wegen seiner Rolle in der Reichstheaterkammer Schwierigkeiten hatte, mit seinem Marionettentheater Fuß zu fassen? Wer hätte gedacht, dass Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz schon Anfang der 1950er-Jahre auf die Augsburger Puppenbühne kam? Und wer kann sich vorstellen, wie die ersten Fernseh-Auftritte der Figuren live im Hamburger Studio vonstattengingen – in der Pionierzeit dieses Mediums, als es noch kaum Zuschauer gab?

Hettche weiß den Weg Hatüs und der Puppenkiste fein zu schildern. Doch das ist nur ein Teil des Romans – derjenige, der in blauen Buchstaben gedruckt ist. Dazwischen, dahinter, davor drängt sich Rot: So sind die Szenen gesetzt, die das namenlose Mädchen auf dem Dachboden erlebt. Immer wieder unterbrechen sie die historische Erzählung von Hatü. Dem namenlosen Mädchen, das auf Marionettengröße schrumpft, mutet der Autor ein eigentümliches Abenteuer zu. Gemeinsam mit Jim Knopf, dem Urmel und dem kleinen König Kalle Wirsch muss es in die Dunkelheit des Dachbodens ziehen, um dem vermeintlich bösen Puppenkisten-Kasperl die Stirn zu bieten. Oder um ihn zu erlösen? Oder ihm das iPhone zu entreißen, das er dem Mädchen zuvor gestohlen hat? Schlussendlich verleiht Hettche auch der rot gesetzten Geschichte einen tieferen Sinn. Trotzdem wirkt das Geschehen auf dem Dachboden konstruiert. Sicher, man freut sich als Leser über das Auftauchen von Urmel und Co. Doch an der Seite des Mädchens wirken die kleinen Stars viel blasser, als wir sie kennen. Sie bleiben Begleitpersonal einer Figur, die der Autor nicht wirklich vorstellen mag. Man erfährt kaum etwas über das Kind. Und da Thomas Hettche ihm nicht einmal einen Namen gönnt, muss es sprachlich eher hölzern als „es“ durch die Passagen geistern – als grob gefertigte Marionette des Autors, die man nicht ins Herz schließen kann.

Die beiden Farben Rot und Blau sowie filigrane Strichzeichnungen machen das Buch allerdings zu einer Augenweide und erinnern an Michael Ende. Die unendliche Geschichte war ebenfalls zweifarbig gedruckt und auch hier spielte die Rahmengeschichte in Rot auf einem Speicher – Reminiszenzen, die stimmig sind, da Michael Ende in Thomas Hettches Roman wiederum als Autor der Jim Knopf-Bücher auftaucht.

Herzfaden zielt auf die Herzen der Leser und erreicht sie – allerdings nicht mit dem Auftritt der vielgeliebten Puppen, sondern mit dem Werden und Wollen ihrer Schöpferin Hatü.

 Thomas Endl für litera-bavarica.de

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