16.07.2021 | Thomas Gunzelmann
Auch wenn weltweit der Siegeszug des Lebensmodells „Stadt“ unaufhaltsam scheint – seit 2005 lebt weltweit die Hälfte aller Menschen in Städten, Tendenz deutlich steigend – heißt das keineswegs, dass der ländliche Raum und die mit ihm verbundene charakteristische Lebensform, eben das „Landleben“, keine Relevanz für die gegenwärtige Raumstruktur und für die zukünftige Raumentwicklung mehr hätten. Gerade in Bayern besitzt der ländliche Raum nach wie vor ein hohes Gewicht, sowohl demographisch als auch in den Verlautbarungen der Politik. Aber gibt es ein spezifisches Landleben überhaupt noch oder werden die Gegensätze zwischen Stadt und Land auf wirtschaftlicher, sozialer und mentaler Ebene nicht zunehmend eingeebnet? Muss man nicht mittlerweile eher von einem Stadt-Land-Kontinuum ausgehen und kann man „den“ ländlichen Raum raumstrukturell überhaupt so einfach definieren oder muss man nicht eher von „vielen“ unterschiedlichen ländlichen Räumen ausgehen?
All diesen und vielen weiteren Fragen widmet sich das umfassend angelegte Werk von Werner Bätzing, dem bekannten Kulturgeografen und Alpenforscher, emeritierter Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der Autor stellt sich darin selbst den Anspruch, dies aus der Geschichte herzuleiten und daraus Leitgedanken für die Zukunft des Landlebens zu entwickeln. Dabei geht er von einigen Grundannahmen aus, die möglicherweise auch zu hinterfragen wären. Die wichtigste: Stadt und Land sind komplementär, sie brauchen einander; ohne Land wäre auch die Stadt nicht überlebensfähig. Eine weitere zentrale These ist die der „ökologischen Reproduktion“, worunter der Verfasser die „permanente ökologische Stabilisierung der instabilen Kulturlandschaft“ versteht. Diese Kulturlandschaft wurde und wird von den Akteuren des Landlebens geschaffen, sie brauchte sich in Bezug auf die Artenvielfalt und die Nachhaltigkeit nicht vor den Naturlandschaften zu verstecken und sicherte dem Menschen das Überleben.
Stadt und Land können also nicht getrennt voneinander gesehen werden und auch wenn es in diesem Buch vornehmlich um das Land geht, wird immer wieder der Blick auf die Stadt und die gegenseitigen Abhängigkeiten und Beziehungen von Stadt und Land geworfen. Dabei holt der Autor weit aus. Er beginnt mit der Entstehung der Landwirtschaft und der damit verbundenen Sesshaftigkeit und dem dann einige tausend Jahre später erfolgenden Auftreten der Städte. Dabei nimmt Bätzing eine weltweite Perspektive ein. Diese Perspektive engt er dann zunehmend ein. Für das Mittelalter, das aus der Sicht des ländlichen Raumes durchaus bis in das 19. Jahrhundert hineinreichen kann, postuliert er am europäischen Beispiel eine Gleichwertigkeit von Stadt und Land. Und schließlich schränkt er in der Phase der nahezu zwanghaften Modernisierung des Landlebens ab 1960 den Blick auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse ein.
Was als Raumstruktur-Geschichte der gesamten Menschheit beginnt, wird also mit dem Herannahen an die Jetztzeit zunehmend räumlich fokussiert. Das muss nicht von Nachteil sein, denn der universale Ansatz zu Beginn neigt doch zwangsläufig zu Verallgemeinerungen, wo man sich manchmal Differenzierungen und vielleicht den einen oder anderen Verweis auf eine zeitgenössische Stimme wünschen würde. So führt der Autor die Entwertung des Landlebens bis in die Zeit der Entstehung der Städte und der frühen Hochkulturen zurück, wonach schon in dieser Zeit das wirkmächtige negative Bild des Landes entstanden sein soll. Ähnlich verhält es sich mit einer Neubewertung des Landlebens, die ländliche Kultur und Traditionen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts hochschätzt, nachdem schon vorher, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, das Land als „schöne Landschaft“ wahrgenommen worden sei, was insbesondere im Spaziergang der Bürger vor den Mauern der Stadt seinen Ausdruck gefunden habe. Dabei gab es das Land und sein Leben als Sehnsuchtsort seit der Antike immer wieder, und das nicht nur ideell als Arkadien, Schäferidylle oder künstlich nachgeahmt im englischen Garten bis hin zum Hameau de la Reine Marie Antoinettes in Versailles, sondern auch in handfesten Hinwendungen der Stadt und ihrer Patrizier zum Land wie etwa in der Villeggiatura Venedigs des 16. Jahrhunderts, ganz zu schweigen von den herrschaftlichen Eliten, wo Landsitze als Jagd- und Sommersitze zumindest seit der Renaissance zum Standardprogramm gehören.
Die Stärken des Buches liegen daher dann dort, wo die Engführung bei den ohnehin immer noch ausreichend komplexen Verhältnissen der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland landet. Hier versteht es der Autor meisterhaft, die Rückkopplungen zwischen Stadt und Land umfassend und verständlich auf den Ebenen der Demographie, der Wirtschaft, der Politik und der Kultur in ihrer Abwertung des Landlebens, bisweilen aber auch in der Aufwertung, darzustellen. Man wird sich des entscheidenden Wandels dann sehr bewusst, wenn man feststellt, dass oft kaum mehr als ein Bauer im Dorf sitzt, dass sich die klassische Bindung zwischen Dorf und Flur weitgehend aufgelöst hat, weil die Pachtflächen von auswärtigen Landwirten bewirtschaftet werden und wie die Landwirtschaft zunehmend bodenunabhängiger wird. Genau diese Entwicklungen sind es aber, die auf lange Sicht die Stadt vom Land unabhängig machen könnten, weil eine Nahrungsmittelproduktion unabhängig von den hergebrachten Strukturen und Traditionen des ländlichen Raumes, kurz des „Landlebens“ durchaus vorstellbar scheint. Dass Werner Bätzing sich solches nicht wünscht, wird vielfach deutlich. Immer wieder sieht er die Chancen einer nachhaltigen, regionalen und ökologischen Landbewirtschaftung im Rahmen eines kreativen und innovativen Landlebens, das auf diese Weise seine Aufgabe erfüllt, nämlich der Stadt zu zeigen, dass ihr Erfolg auf einem ökologisch, ökonomisch und soziokulturell nachhaltigen Landleben basiert.
Abschließend macht sich Bätzing Gedanken, wie das Landleben in seinem jetzigen, teils entwerteten Zustand positiv in die Zukunft geführt werden könne. Diese Überlegungen führt er zu fünf „Leitideen“ aus. Hierbei sieht er die kulturelle Identität des ländlichen Raumes als Schlüsselfaktor, wozu Menschen in diesem Raum gehören, die dies für sich verinnerlichen. Auf dieser Basis könnte die wirtschaftliche Situation durch Nutzung regionaler Potentiale verbessert, die Infrastruktur gestärkt, verwaltungsmäßige Raumstrukturen optimiert und die Maßnahmen insgesamt je nach Raumtyp feinjustiert werden. Ein umfassender Katalog an Ideen, der sicherlich zielführend wirken könnte, umso mehr, als dessen Einzelbestandteile hier und dort auch schon seit geraumer Zeit zur Anwendung kommen. Allerdings hält sich ihre Wirksamkeit angesichts globaler Gegenkräfte bisher eher im bescheidenen Rahmen.
Nach der Lektüre des in Fachkreisen ebenso wie in Medien und Politik viel beachteten Werkes von Werner Bätzing wird sicherlich jedem Leser deutlich, dass es sich lohnt, sich für das Landleben und damit für Vielfalt, Nachhaltigkeit, Tradition, Kulturlandschaft und Ökologie einzusetzen. Das Buch erschien zu Beginn des Jahres 2020, weswegen die jüngsten durch die Corona-Pandemie bedingten Chancen für das Landleben noch keinen Eingang finden konnten. Aber hier scheint sich manches abzuzeichnen, was der Autor für die Zukunft des Landes skizziert hat und was durch diese Zwänge überdacht und vielleicht sogar beschleunigt werden kann.
Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.