16.07.2021 | Wolfgang Burgmair
Überblicksdarstellungen zu historischen, kulturgeschichtlichen, kunstgeschichtlichen oder gar literaturgeschichtlichen Themen zählen nicht zu den häufigsten Publikationsformen in der deutschsprachigen Wissenschaftswelt. Umso erfreulicher ist es, dass es den drei Herausgebern Waldemar Fromm, Manfred Knedlik und Marcel Schellong gelungen ist, eine Literaturgeschichte Münchens von den Anfängen der Stadtentwicklung im 13. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart vorzulegen. Eine stattliche Anzahl von 57 Autorinnen und Autoren hat in 81 Beiträgen die enorme Zeitspanne von fast 800 Jahren literarischer Produktion in und um München sichtbar werden lassen. Die überwiegende Anzahl der Beiträge ist auf einen Umfang von fünf bis sieben Seiten beschränkt, nur die Einleitungsdarstellungen zu den jeweiligen historischen und stilistischen Epochen sind etwas ausführlicher auf maximal zehn Seiten angelegt. Auf den ersten Blick also eine beeindruckende Leistung und zudem auch eine durchaus „leserfreundliche“; der Großteil der Beiträge ist durch die Beschränkung auf Kürze des Umfangs bei gleichzeitigem Bemühen um die Vermittlung von weitergehenden Informationen, bzw. durch archivalische Hinweise und die Angabe von Sekundärliteratur im meist ausführlichen Fußnotenteil am Ende der jeweiligen Artikel gekonnt konzipiert. Doch liegen in dieser Beschränkung Segen und Fluch dicht beieinander! Segen für den wissbegierigen Leser, der in angenehm zu bewältigenden Artikeln schnell einen ersten Eindruck von der Biographie, den literarischen Themen sowie der Sprache der Autorinnen und Autoren der Vergangenheit und Gegenwart erhält; Fluch insofern, als es am stilistischen und inhaltlichen Vermögen oder leider oftmals Unvermögen der Bearbeiterinnen und Bearbeiter liegt, ein Thema knapp, inhaltlich ausreichend und auch noch gut lesbar zu gestalten.
Im Vorwort weisen die Herausgeber darauf hin, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um eine „Kleine Literaturgeschichte Münchens“ handelt (S. 15), der eine größere Darstellung, in der u. a. auch eine Geschichte des Münchner Buchhandels aufgenommen werden soll, folgen müsste. Nun dürfte jeder Leserin, jedem Leser, der sich im derzeitigen Wissenschaftsbetrieb und Verlagswesen auskennt, klar sein, dass diese Idee einer „Großen Münchner Literatur- und Verlagsgeschichte“ eine Hoffnung für eine ferne, momentan sogar allzu ferne Zukunft sein wird. Auch die Betonung der „kleinen“ Form der in München verfassten Literatur hat den Rezensenten etwas irritiert. Zählen für die Herausgeber etwa Thomas Mann, Lion Feuchtwanger oder Oskar Maria Graf – um nur einige Beispiele zu nennen – zu einer „Kleinen Literatur“? Sinnvoller wäre es gewesen, im Vorwort auf den ausnehmend weitgespannten Rahmen zu verweisen, den die Herausgeber unter dem Begriff „Literatur“ verstehen bzw. definieren. Denn gleich in den ersten Kapiteln der Literaturgeschichte, die das späte Mittelalter bis zur Renaissance darstellen, wird klar, dass neben Originaltexten auch Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen, Nachdichtungen nach antiken Vorbildern, Widmungsgedichte an hochgestellte Persönlichkeiten, zunftgebundene Singspruchdichtungen, Briefe, medizinische und okkultistische Schriften sowie religiöse Erbauungsliteratur, Heiligenviten und die bedeutenden, aber kaum textlich überlieferten Jesuitendramen zu zählen sind; insgesamt also ein Kaleidoskop von literarischen Ausdrucksformen, das den Leser in seiner liberalen Fülle etwas überrascht. Weitere „Überraschungsmomente“ haben v. a. die ersten Beiträge parat, in denen etliche sprachwissenschaftliche Fachausdrücke verwendet werden, die dem nicht linguistisch Vorgebildeten wohl nicht ohne weiteres bekannt sein dürften: Mantik (S. 25), Akrostichon (S. 31), „katechetische Texte“ (S. 37), „Periochen“, „Kasualdrucke“ (beide S. 109) oder gar „talking care“ (S. 342), um nur einige Bespiele aufzuzählen. Hier wäre ein Glossar am Ende des Bandes sehr wünschenswert gewesen. Hin und wieder erstaunen den Leser auch Neuschöpfungen von Worten wie z. B. „Leuchtgestalt“ und „Leuchtgestalten“ als Charakterisierung für die bedeutenden Autoren und Geschichtsschreiber der beginnenden Renaissance Matthäus Rader und Johannes Aventinus. Die Bezeichnung „Leuchtgestalt“ sagt nun wirklich nichts über die sprachliche, stilistische und gar wissenschaftliche Bedeutung der Autoren aus. Wie schwierig die Anfänge der „Literatur“ in München gewesen sein mögen, darf der Leser in den Beiträgen von Klaus Wolf über die Literatur des Spätmittelalters, über Ulrich Fueterer und Johannes Hartlieb (S. 21–39) leibhaftig durchleben. Vielleicht hätte der Hinweis auf das Fehlen einer eigenständigen Literatur in München für die ersten zwei Jahrhunderte seines Bestehens klärender und ehrlicher gewirkt, als das bemühte Zitieren von Klosterliteratur, die vielleicht in der Stadt hätte gelesen werden können. Hierbei sollte aber zu bedenken sein, dass in der Frühzeit des sich entwickelnden Marktorts „Munichen“, der aus Ackerbürgern und Händlern bestand, man wohl kaum vom Vorhandensein eines Lesepublikums ausgehen kann, ganz abgesehen von nicht vorhandener Alphabetisierung. Nicht uninteressant demgegenüber ist Michael Baldzuhns Beitrag über den Münchner Meistergesang (S. 48ff.) mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Singspruchdichtung des Bäckermeisters Konrad Harder und seines Schwiegersohns Albrecht Lesch für Hans Sachs während dessen Lehrjahren in München. Begrüßenswert wäre es auch hier gewesen, die stadtgeschichtlichen Forschungen des Archivars Helmuth Stahleder und vor allem das von ihm herausgegebene Erste Münchner Häuserbuch (2 Bde., München 2006) zurate zu ziehen. Manche anscheinend unlösbar erscheinenden Verwandtschafts- und Besitzstandsfragen ließen sich hier schnell und definitiv klären, ebenso wie die Lokalisierung des ersten Münchner „Literatenviertels“ zwischen Diener-, Altenhof- und Burgstraße. Bedauerlicherweise sind interdisziplinäre Forschungsansätze in den letzten Jahren in der akademischen Welt aber sehr aus der Mode gekommen. Gerade im Fall der rein bürgerlichen, nicht-höfischen Dichtung, eröffneten sich neue und ertragreiche Forschungsfelder. Dagegen stellen die Beiträge von Willibald Stroh über Martinus Balticus (ab S. 86) und Jakob Balde (ab S. 130) und von Guillaume van Gemert über Aegidius Albertinus (ab S. 117) und Jeremias Drexel (ab S. 123) die ideale Form der Darstellung von wenig bis unbekannten Autoren des 16. bis 17. Jahrhunderts dar. Beiden Bearbeitern merkt man an, dass sie „ihre“ Autoren in Werk, bzw. in Sprache und Stil, und Biographie bestens kennen und schätzen und daher glückt hier die Vermittlung an den Leser umso überzeugender, ja stilistisch geradezu animierender. Nur noch einmal fand der Rezensent einen qualitativ ähnlich, inhaltlich wie sprachlich hervorragend gestalteten Beitrag, und zwar in Wolfgang Frühwalds Einführungstext über die Literatur in München zwischen 1933 und 1945 (ab S. 401); eine insgesamt überzeugende Leistung, die sehr präzise das Leben von Literaten in der NS-Diktatur schildert und auf die hinterhältige Korrumpierung von Autoren durch das Regime aufmerksam macht. Die Verleihung von hohen offiziellen Ämtern im Kulturbetrieb an die wenigen Repräsentanten der Literatur vor 1933, die nicht das Land verlassen hatten oder konnten, ließ die betroffenen Autoren nach 1945 als Mittäter erscheinen, die diesen Makel nicht mehr beseitigen konnten.
Doch wieder zurück zur chronologischen Abfolge des Inhalts. Die Beiträge von Wilhelm Haefs über die Autoren der Aufklärungszeit (ab S. 169 und ab S. 190) sowie Manfred Knedlik über die Zeitschriften des frühen 18. Jahrhunderts (ab. S. 180) sind sehr informativ und versuchen einmal mehr, durch profunde Quellenkenntnis mit dem immer noch gerne tradierten Vorurteil aufzuräumen, dass die Aufklärungszeit im Kurfürstentum Bayern und in seiner Hauptstadt München eigentlich ohne Bedeutung gewesen sei, gemessen an den Leistungen der norddeutschen Aufklärer. Für den als „kurzes literarisches 19. Jahrhundert“ (S.217–258) bezeichneten Abschnitt der Literatur vor der Prinzregentenzeit sei auf die Beiträge von Waldemar Fromm (ab S. 217) über die Netzwerke der Münchner Dichterkreise und von Walter Hettche über die Dichtervereinigung „Die Krokodile“ (ab S. 249) hingewiesen. Die persönlichen Allianzen und Spannungen sowie die oktroyierte Förderung und Stilentscheidung durch König Max II. lassen die schwierige Situation der in München wirkenden Literaten deutlich werden. Nur der erste Literatur-Nobelpreisträger Paul Heyse ragte seinerzeit aus dem Kreis der Münchner Dichter hervor, was ihn jedoch – bald nach seinem Tod – nicht vor dem Abgleiten ins Vergessen bewahrte.
Münchens literarische Blütezeit ist auf die Jahre zwischen 1890 und 1914 beschränkt. Hier „leuchtete“ die Stadt, die mit Schwabing einen fest benennbaren Ort für schöpferische Äußerungen entstehen ließ. Neben Beiträgen, die inzwischen hinlänglich bekannte Schriftstellerinnen, Schriftsteller und Theaterdichter wie Frank Wedekind, Stefan George, Lena Christ, Thomas Mann und Franziska zu Reventlow würdigen, sei hier auf die Werk- und biographischen Darstellungen zu den heute vergessenen oder fast vergessenen Autorinnen und Autoren wie Otto Julius Bierbaum (Beitrag von Dirk Rose, ab S. 273), Elsa Bernstein (von Kristina Kargl, ab S. 323) und Heinrich Lautensack (von Waldemar Fromm, ab S. 341) hingewiesen. Dagegen sticht der etwas konfuse Beitrag von Gertrud Maria Rösch über Ludwig Thoma (ab S. 298) leicht irritierend ab; die Bearbeiterin umgeht Thomas letzte Lebensjahre während und nach dem Ersten Weltkrieg, die geprägt waren von einer sich politisch radikalisierenden Tendenz in seinen Zeitungsartikeln. Dieses Manko wird jedoch im darauffolgenden Beitrag von Waldemar Fromm über die „Unruhigen Jahre 1914–1933“ wieder wettgemacht. Eine insgesamt sehr gelungene Überblicksdarstellung, die auch Ludwig Thomas politisches Abgleiten thematisiert. Für die daran anschließende „Epoche“ der NS-Zeit bietet der bereits erwähnte Beitrag von Wolfgang Frühwald die lesenswerteste Darstellung.
Die Diversifizierung der literarischen Themen und Gattungen ab 1945/46 bis in die unmittelbare Gegenwart wird in den letzten drei Abschnitten des Buches dargestellt. Dem Rezensenten gefielen hier die Beiträge über Marie Luise Kaschnitz (von Clemens Pornschlegl, ab S. 476), über die Dichterin Dagmar Nick (von Holger Pils, ab S. 481) und über den Juristen und Romancier Herbert Rosendorfer (von Oliver Jahraus, ab S. 495). Für den letztgenannten Beitrag wäre allerdings eine genauere Recherche von Rosendorfers frühem Münchner Umfeld durchaus nützlich und klärend gewesen. Rosendorfer zählte zum Studenten- und Akademikerkreis um den in München lehrenden Medizinhistoriker Werner Leibbrand, einem erklärten Gegner des Nationalsozialismus und einzigen deutschen Gutachter bei den Nürnberger Ärzteprozessen. Leibbrand übte entscheidenden Einfluss auf Rosendorfers Sicht vom menschlichen Leben aus und prägte dessen Auffassung von Philosophie. Für den „Weg in die Gegenwart“ sei auf den Beitrag von Marcel Schellong über die aktuelle Literatur seit den 1990er Jahren (ab S. 534), auf Werner Jungs Beitrag über die „Erzählerin Keto von Waberer“ (ab S. 547) und auf Marcel Schellongs Würdigung des „Mehrdeutigen“ im Schreiben von Patrick Süskind (ab S. 556) verwiesen.
Die Publikation versammelt in der Tat eine überbordende Fülle von Namen und Informationen, die z. T. dazu anregt, sich selbst auf Entdeckungsreise durch die „Münchner Literatur“ zu begeben. Insgesamt also eine sehr respektable Überblicksdarstellung, die vielleicht einmal als Grundlage für ein noch umfassenderes Werk dienen kann und wird, selbst wenn es für den Leser hie und da Längen, Unsicherheiten und Verbesserungswürdiges zu bestehen gilt.
Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V. „Schönere Heimat“ zur Verfügung gestellt.