Rezensionen - Florian Welle
 

Renzensionen - Florian Welle

Nackert nachts im Tegernsee

 12.12.2020 |  Florian Welle

Zugegeben, ein weltberühmtes Ungeheuer wie »Nessie« hat Bayern nicht zu bieten. Wer aber nun
denkt, in den hiesigen Gewässern würde es ungeheuer staad zugehen, der sieht sich nach der
Lektüre von »Wassersagen aus Bayern« eines Besseren belehrt. Im Walchensee tummelt sich ein
abscheulicher Drache, in der Aschauer Klamm lauert der Tatzelwurm mit seinem krokodilähnlichen
Maul, und am Chiemsee treibt die runzelige Wetterhexe ihr Unwesen. Karl-Heinz Hummel,
ausgezeichnet mit dem Ernst-Hoferichter-Preis, hat die aquadämonischen Sagen mit viel Liebe
zusammengestellt. Wie er zuvor schon bayerische Wirtshaus- und Raunachtsagen gesammelt hat.
Bei den Wassersagen war er allerdings nicht alleine. Eine ganz besondere »Muse« stand ihm bei:
das Rockadirl. Die rothaarige Wasserfrau mit dem großen Herzen am rechten Fleck flüsterte »dem
Schreiberling« mit »ihrer heiseren, tiefen und warm tönenden Stimme« in einer romantischen
Sternschnuppennacht am Lagerfeuer Sage um Sage ins Ohr. Wer sich nun vielleicht fragt, wo man
diesem geheimnisvollen Wesen begegnen kann, dem sei das »Lied vom Rockadirl« nahegelegt.
Dort heißt es: »’s Rockadirl, so weiß wie Schnee / Schwimmt nackert nachts im Tegernsee«.

Diese Rezension wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom "Münchner Feuilleton".

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

Warum Bayern ein orientalisches Land ist

 04.03.2021 |  Florian Welle

In seinem preisgekrönten Werk geht Klaus Reichold den globalen Einflüssen auf die Bayern nach – eine etwas andere Mentalitätsgeschichte.

Mia san mia! Drei Worte, mit denen man landläufig die bayerische Lebensart auf den Punkt bringt. Was jedoch steckt wirklich dahinter? Klaus Reichold lüftet in seinem Buch »Warum Bayern ein orientalisches Land ist und andere weiß-blaue Wahrheiten« das Geheimnis. Der Spruch hat erst einmal überhaupt nichts mit dem Bayernvolk und schon gar nichts mit dem FC Bayern München zu tun. Sondern er taucht »zum ersten Mal Ende des 19. Jahrhunderts in Wien auf und diente dort lediglich der Selbstvergewisserung des k.u.k. Infanterieregiments Hoch- und Deutschmeister Nr. 4«, so der Kulturhistoriker.

Reicholds Buch verblüfft ein ums andere Mal mit Fakten, Hintergründen und Zusammenhängen. Weitere Beispiele wären etwa, dass die Mark Brandenburg von 1323 bis 1373 zum bayerischen Machtbereich zählte. Oder der Wiener Stephansdom: Weil Wien bis 1469 zum Bistum Passau gehörte, bekam er seinen Namen vom dortigen Dom St. Stephan. Dieser wiederum, das nebenbei, besitzt mit vier Glockenspielen, 233 Registern und fast 18.000 Pfeifen die größte Kirchenorgel der Welt. Freilich, nicht alles Geschilderte ist wirklich neu. So wurde die Geschichte von der zufälligen Erfindung der Weißwurst schon öfter erzählt. Das schmälert jedoch nicht den Genuss an dem mit Süffisanz und einer gehörigen Portion Selbstironie zumeist locker plaudernden Buch, das in der Edition Luftschiffer erschienen ist und eher zum Herumstöbern einlädt als zu strenger Lektüre von der ersten bis zur letzten Seite. Wenn nötig, kann Reichold aber auch Klartext reden. Etwa, wenn es um den Judenhass Ludwig Thomas geht.

Der Titel erhielt im vergangenen Jahr zusammen mit neun weiteren Werken die erstmals vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst verliehene Auszeichnung »Bayerns Beste Independent Bücher«. Damit soll die wertvolle Arbeit der unabhängigen bayerischen Verlage in allen Bereichen – vom Kinder- und Jugendbuch über Belletristik, Lyrik bis zum Sachbuch – gewürdigt und somit sichtbarer werden. Bei »Warum Bayern ein orientalisches Land ist« hieß es zur Begründung: »(…) anarchisch und subversiv zeigt sich bayerisches Brauchtum im Weltzusammenhang.« Überschriften wie »Warum Franken und Schwaben keine Lederhosen tragen dürfen«, »Warum die Oberpfalz an Sibirien erinnert« und »Warum syrische Bogenschützen das römische Bayern bewachten« wecken die Neugier.

Reichold ist ein versierter Kenner der bayerischen Geschichte und insbesondere des bewegten Lebens Ludwigs II., über den er gemeinsam mit Thomas Endl ein biografisches Standardwerk geschrieben hat. So wundert es nicht, dass Ludwig II. durch viele Kapitel geistert, allen voran natürlich im titelgebenden »Warum Bayern ein orientalisches Land ist« Erwähnung findet. Schließlich liebte der Märchenkönig den Orient besonders und huldigte ihm in seinen Architekturvisionen vom Marokkanischen Haus bis zum Königshaus am Schachen.

Zuletzt liefert das mit Zitaten gespickte Buch eine Charakterologie des Bayern, von dem niemand so recht weiß, woher genau er stammt. »Liaba zvui essn als zwenig dringa« ist so ein Zitat, das Reichold schlussfolgern lässt: »Damit ist das bayerische Wesen, das die Opulenz liebt und die Askese fürchtet, eigentlich schon hinlänglich beschrieben.«

 

Diese Rezension hat uns freundlicherweise das Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

Hintersinnig

 12.12.2020 |  Florian Welle

Man nannte sie »Skandalgräfin«: Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Gräfin zu
Reventlow. Ihr unabhängiges Leben als Schwabinger Bohémienne und alleinerziehende Mutter
stellte in den letzten Jahren mit unschöner Regelmäßigkeit die Schriftstellerin Reventlow in den
Hintergrund. Nun gilt es, sie endlich wieder zu lesen beziehungsweise zu hören. Und zwar jenseits
ihres bekanntesten Romans »Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem
merkwürdigen Stadtteil«. Der kleine Regensburger LohrBär Verlag hat dankenswerterweise elf feinund
hintersinnige Erzählungen und Dramolette u.a. von Eva Sixt, Bettina Schönenberg und Christin
Alexandrow einlesen lassen. Benedikt Dreher sorgt mit dem Fagott für die passenden musikalischen
Zwischenrufe. Gerade wurde die Produktion als einer von zehn Titeln mit der Auszeichnung
»Bayerns Beste Independent Bücher« prämiert. Da zieht einen die rätselhafte Geschichte »Der Herr
Fischötter« in Bann, in der das Element Wasser eine unheilvolle Rolle spielt. Da erzählt »Wir
Spione« von den zwischenmenschlichen Spannungen all jener Freigeister, die auf dem Monte Verità
Zuflucht suchen. Die »internationale Basis« bröckelt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, man
unterstellt »spionistische Zwecke«. Und in der satirischen Künstlergeschichte »Christus« versucht
die Erzählerin dem bei Kunstmalern sehr beliebten Christus-Modell Friedrich »Fritze« Wilhelm
Köpke aus Berlin Pikantes aus der Kunstszene zu entlocken. Vergebens: Der Christus-Kopf – »eine
Mark für Kreuzigen« – gibt sich zugeknöpft.

Diese Rezension wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt vom "Münchner Feuilleton".

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Der München-Roman "Am Götterbaum"

 17.03.2021 |  Florian Welle

»Mir ging es immer darum«, erklärte Hans Pleschinski einmal, »Historie wachzurufen«. Dieser Arbeitsmaxime verdanken wir unter anderem eine Übersetzung des geheimen Tagebuchs des Herzogs von Cro sowie die Herausgabe der Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel. Die Fantasie für das eigene Schaffen wurde in den letzten Jahren vor allem von Literaturnobelpreisträgern beflügelt. In »Königsallee« imaginierte der Schriftsteller ein Aufeinandertreffen von Thomas Mann und seinem »Augenstern« Klaus Heuser in der Wirtschaftswunder-BRD. In »Wiesenstein« erzählte er die letzten Lebensjahre Gerhart Hauptmanns. Pleschinskis jüngster Roman »Am Götterbaum« scheint nahtlos daran anzuschließen, steht doch mit dem gebürtigen Berliner Paul Heyse – nach dem Historiker Theodor Mommsen und dem Philosophen Rudolf Eucken – der erste deutsche mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Schriftsteller im Zentrum. Oder?

Was auf den ersten Blick ausgemacht scheint, bringt die Lektüre ins Wanken. »Am Götterbaum« ist weniger ein Buch über den ab 1854 bis zu seinem Tod 1914 in München residierenden Dichterfürsten Paul Heyse, den die meisten heute wohl nur mit einer lauten, dunklen und verdreckten Unterführung am Hauptbahnhof in Verbindung bringen und nicht mit 180 Novellen, mehreren dickleibigen Romanen, zahllosen Gedichten, Theaterstücken und Übersetzungen. Sondern es geht darin vor allem um die Befindlichkeit der bayerischen Landeshauptstadt von heute und reiht sich somit aufs Schönste in die Phalanx großer München-Romane von Koeppens »Tauben im Gras« über Uwe Timms »Heißer Sommer« bis zu Ernst Augustins »Schule der Nackten« ein. »Am Götterbaum« ist also hochironisch, scharfzüngig. Gleich auf der ersten Seite stimmt ein Satz auf die Tonlage ein: »Späte Tage der Menschheit.«

Pleschinskis Kniff ist ebenso einfach wie bestechend. Er nimmt den abgedroschenen Ausspruch »Der Weg ist das Ziel« ernst. Legt sie der 63-jährigen Stadträtin Antonia Silberstein in den Mund und schickt sie gemeinsam mit der Monacensia-Bibliothekarin Therese Flößer und der Schriftstellerin Ortrud Vandervelt zu Fuß von der Innenstadt zur ehemaligen Heyse-Villa, wo einst Theodor Fontane und Henrik Ibsen ein und aus gingen. Könnte man die unter Denkmalschutz stehende, vermietete Immobilie in der Maxvorstadt nicht in ein Heyse-Zentrum und somit in einen kulturellen »Leuchtturm« umwandeln, der weit über die Stadt ausstrahlt? »Am Götterbaum« setzt Kulturpolitik und Literaturbetrieb mit präzise platzierten Floretthieben zu, die bestechend komisch sind.

»Großes stand bevor, aber es begann klein und zugig«, heißt es früh. Das klingt nicht nur wie ein Menetekel, sondern ist auch eins. Gewöhnlich braucht man für den Fußweg vom Rathaus über Odeons-, Karolinen- und Königsplatz in die Luisenstraße 22 wohl etwas mehr als zwanzig Minuten. Pleschinski lässt das Damentrio, zu dem später noch der Heyse-Experte Harald Bradford samt chinesischem Ehemann stößt, auch nach 200 Seiten noch nicht wirklich ankommen. Man fühlt sich ein wenig an Kafkas Landvermesser K. erinnert, das Schloss immer in Reichweite.

Ortrud Vandervelt, der die Welt die Romane »Kartause des Hirns« und »Stuckaturen der Emotion« verdankt, ist von Anfang an verbiestert. Sie hält Heyses Werk für aus der Zeit gefallenen »Plunder«. Therese Flößer wiederum humpelt nach einem Skiunfall auf Krücken. Für den Rest an Unbill sorgen der Föhn, zeternde Münchner, rücksichtslose Stehrollerfahrer sowie hirnzersetzender Business-Sprech, der aus offenen Fenstern weht: »Ups and Downs werden uns nicht erschüttern (…) solange die höchste Visibilität gewährleistet ist und reported wird.« So wird im Münchner Alltagstreiben der Vor-Corona-Zeit der locker angesetzte Ortstermin zur nervenaufreibenden Odyssee, in die Pleschinski elegant alles eingeflochten hat, was der Leser über Leben und Werk des in Vergessenheit geratenen Dichters wissen muss – vieles davon macht neugierig. Am Ende ist die »Heyse-Gruppe« zu einem derangierten »Haufen« mutiert, der auch vor einer Invasion in fremdes, von einer Mauer geschütztes Terrain, auf dem der Götterbaum steht, nicht mehr zurückschreckt.

 

Diese Rezension wurde uns freundlicherweise vom Münchner Feuilleton zur Verfügung gestellt.

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litera bavarica ist eine Unternehmung der Histonauten und der Edition Luftschiffer (ein Imprint der edition tingeltangel)
in Zusammenarbeit mit Gerhard Willhalm (stadtgeschichte-muenchen.de)


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